Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) stellt heute (Montag) im Bundestag die Vertrauensfrage. Damit will er den Weg für vorgezogene Bundestagswahlen freimachen. Es ist das sechste Mal in der 75-jährigen Geschichte der Bundesrepublik, dass ein Kanzler die Vertrauensfrage stellt. Aber was genau heißt das?
Ursprüngliches Ziel der Vertrauensfrage nach Artikel 68 Grundgesetz war es, dem Kanzler ein Instrument in die Hand zu geben, sich seiner Mehrheit im Bundestag zu versichern. Sie kann gerade in schwierigen Situationen disziplinierend auf die Regierungsparteien wirken. Denn wenn der Kanzler keine Mehrheit bekommt, „kann der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers binnen einundzwanzig Tagen den Bundestag auflösen“, wie es in Artikel 68 heißt. Dann müssten innerhalb von 60 Tagen Neuwahlen stattfinden.
Alternativ könnte der Bundespräsident zwar auch die Auflösung verweigern oder die Parlamentsmehrheit könnte jemand anderen zum Bundeskanzler wählen. Beide Varianten gelten in der aktuellen Lage aber als ausgeschlossen. Erklärtes Ziel von Scholz sind Neuwahlen. Und mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist bereits der Wahltermin am 23. Februar vereinbart.
In der Sondersitzung heute ab 13 Uhr folgt nach einer Erklärung des Kanzlers Scholz eine Aussprache im Parlament. Danach soll namentlich über den Antrag abgestimmt werden.
Was passiert heute bei der Vertrauensfrage im Bundestag?
Ab 11 Uhr kommen im Bundestag zunächst die Fraktionen separat zusammen, um sich auf die Abstimmung vorzubereiten. Um 13 Uhr beginnt die Plenarsitzung. Scholz wird seine Beweggründe für die Vertrauensfrage in einer etwa 25-minütigen Rede begründen. Es schließt sich eine zweistündige Aussprache an, in der Abgeordnete aller acht im Bundestag vertretenen Parteien zu Wort kommen werden. Anschließend wird namentlich abgestimmt.
Was bedeutet „namentliche Abstimmung“? Das heißt, das Abstimmungsverhalten jedes einzelnen Abgeordneten wird etwa eine Stunde nach der mündlichen Verkündung des Ergebnisses durch Bundestagspräsidentin Bas veröffentlicht. Dann wird man sehen, ob es sogenannte Abweichler gibt, also Abgeordnete, die gegen die Linie der eigenen Fraktion oder Gruppe gestimmt haben.
Ist sicher, dass Scholz keine Mehrheit bekommt? Das gilt als sicher. Dem Bundestag gehören 733 Abgeordnete an. Um das Vertrauen des Parlaments zu bekommen, müsste Scholz 367 Stimmen erhalten – die absolute Mehrheit aller Parlamentarier, auch „Kanzlermehrheit“ genannt. Die SPD-Fraktion mit ihren 207 Abgeordneten will dem Kanzler zwar das Vertrauen aussprechen. Die Grünen-Fraktionsspitze hat ihren 117 Parlamentariern aber eine Enthaltung empfohlen.
Bislang wurde fünfmal die Vertrauensfrage gestellt
Insgesamt fünfmal stellten Kanzler in der Geschichte der Bundesrepublik die Vertrauensfrage. Erstmals 1972 von SPD-Kanzler Willy Brandt. Es folgten Helmut Schmidt (SPD, 1982), Helmut Kohl (CDU, 1982) sowie Gerhard Schröder (SPD, 2001 und 2005). In drei Fällen führte die Vertrauensabstimmungen zu Neuwahlen:
Willy Brandt, 1972: Vertrauensfrage für Neuwahlen
Im September 1972 stellt Willy Brandt die erste Vertrauensfrage in der Geschichte der Bundesrepublik. Mit der bewussten Niederlage will er Neuwahlen erzwingen, um die Unterstützung für seine Ostpolitik zu sichern. Brandt verliert die Abstimmung erwartungsgemäß: Von 482 stimmberechtigten Abgeordneten sprechen 233 Brandt ihr Vertrauen aus, 248 stimmen gegen ihn ab. Einer enthält sich. Bei der folgenden Bundestagswahl erreicht die SPD das beste Ergebnis ihrer Geschichte.

Helmut Kohl, 1982: Strategische Niederlage für Stabilität
Nach dem Koalitionsbruch zwischen FDP und SPD im Herbst 1982 wird Helmut Kohl zwei Monate später per konstruktivem Misstrauensvotum Kanzler. Um Neuwahlen zu erzwingen, verliert er absichtlich die Vertrauensfrage: Nur acht Abgeordnete stimmen bei der Frage mit Ja, 218 mit Nein, 248 enthalten sich. Ein Wendepunkt, der eine konservative Ära in Deutschland einleitet. In der darauffolgenden Bundestagswahl bestätigen die Wählerinnen und Wähler Kohl im Amt.
Gerhard Schröder, 2005: Das Ende der rot-grünen Ära
Nach schlechten Wahlergebnissen und wachsender Unzufriedenheit stellt Gerhard Schröder im Juli 2005 die Vertrauensfrage. Er verliert sie bewusst mit 151 Ja- gegen 296 Nein-Stimmen bei 148 Enthaltungen und ermöglicht so eine vorgezogene Bundestagswahl. Der Sieg der Union beendet die rot-grüne Ära und die CDU-Vorsitzende Angela Merkel wird zur ersten Kanzlerin gewählt. ■