Eine Schülerreise ist eine perfekte Gelegenheit, andere Kulturen kennenzulernen – könnte man meinen. Doch eine organisierte Reise mit Schülern zweier Waldorfschulen aus Thüringen war wohl vor allem pietätlos. Denn sie führte nach Russland – und dann auch noch exakt zum ersten Jahrestag des Beginns der russischen Invasion im Angriffskrieg gegen die Ukraine.
Dabei rät das Auswärtige Amt von Reisen in das kriegführende Land ab. In den vergangenen Monaten wurde auch der Kreml und andere Ziele in Moskau immer wieder angegriffen.
Waldorfschüler reisten mitten im Angriffskrieg nach Russland
Wie erst jetzt durch einen Post des Bloggers Oliver Rautenberg auf dem Kurznachrichtendienst X (zuvor Twitter) bekannt wurde, fuhren Schüler der Waldorfschulen Erfurt und Weimar dennoch mit insgesamt 18 Personen in die Region Kaluga, südwestlich von Moskau, trafen dort auf zwei örtliche Waldorfschulen. Darunter waren laut Angaben in einem Blogpost der Waldorfschule in Weimar zwei Betreuer. Die Ausfahrt – laut Schule eine private, von den Eltern organisierte Tour – dauerte vom 10. bis 25. Februar 2023. Schüler und Betreuer waren also genau zum ersten Jahrestag des russischen Überfalls auf das Nachbarland in Russland.
Organisiert wurde die Reise von einem gemeinnützigen Verein namens Biologisch-Dynamische Bildung und Forschung in Russland e.V. Dessen Vorstand Frank S. war auch selbst auf dem Trip dabei.
Für die Russen war die Reise ein Grund zur Freude. „Auf der Hinreise wurden wir bereits an der Grenze mit größter Freundlichkeit begrüßt“, schreibt Frank S. in einem Bericht der Klassenfahrt. „Gerade jetzt!“, heißt es dort, sei die Reise notwendig.
Stellt euch vor es ist Krieg, und eure Klassenfahrt geht nach #Russland. Die #Waldorfschulen Weimar und Erfurt fuhren trotzdem hin.
— Oliver Rautenberg | @anthroblogger.bsky.social (@AnthroBlogger) September 28, 2023
"Die vieldiskutierten Konflikte liegen in der globalen Politik, aber auf keinen Fall in den einzelnen Menschen."
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Russen freuten sich über Besuch aus dem Westen
Schüler der Partnerschulen und Passanten hätten sich über den Besuch gefreut. „Bei den Ausflügen waren wir als deutsch-russische Gruppe sehr auffällig, da momentan fast keine westeuropäischen Menschen in Moskau unterwegs sind. Wir wurden mehrfach angesprochen, wer wir sind und warum wir hier sind“, schreibt der Betreuer. Es sei dann „immer mit großer Freude und auch Erleichterung wahrgenommen“ worden, dass die Gruppe trotz aller Widrigkeiten nach Russland gekommen sei. Beschwerlich sei allein die rund 40-stündige Anreise gewesen, die wegen der gegen russische Fluglinien verhängten Sanktionen mit Linienbussen über die Exklave Kaliningard stattfinden musste.
Dass die Russen den Besuch begrüßten, ist erwartbar, denn viele Russen haben nur Zugang zu den staatlichen Propagandamedien und verstehen daher nicht, warum Westeuropäer oder gar Ukrainer diesen Krieg nicht als Befreiung von einer angeblichen Nazidiktatur in der Ukraine verstehen können.
Besuch in der Banja und Ski fahren, während Russen-Soldaten morden
Für S. jedenfalls stand fest, dass man sich trotz des Krieges mit Russen prächtig amüsieren könne. „Die viel diskutierten Konflikte liegen in der globalen Politik, aber nicht in den einzelnen Menschen und der Bevölkerung der Länder“, berichtete der Betreuer, der auch für die Coronaleugner-Partei „Die Basis“ aktiv ist.
Politik hielt man aus dem Schülerausflug lieber heraus, wollte sich wohl nicht das Programm verderben lassen, zu dem neben der Pflege von Bäumen auch Ausflüge in die Region, ein Besuch in der Banja („die russische Sauna“) und das gemeinsame Skifahren gehörten. Trotz einer Visite in Moskau und einem Foto vor dem Kreml wurden die Schüler aber wohl nicht über die russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine aufgeklärt. So besteht unter anderem gegen Diktator Wladimir Putin wegen der Verschleppung Zehntausender ukrainischer Kinder vor dem Internationalen Strafgerichtshof ein Haftbefehl. In vielen dokumentierten Fällen haben die Kinder ein ähnliches Alter wie die Teilnehmer der Schülerreise.
Bildungsministerium riet von Fahrten in das Konfliktgebiet ab
Thüringens Bildungsminister Helmut Holter (Linke) verschickte bereits am 25. Februar 2022, also einen Tag nach dem Beginn der russischen Invasion, ein Schreiben: „Mit Blick auf die aktuelle Lage habe ich darüber hinaus festgelegt, dass schulische Fahrten und Reisen sowie Dienstreisen in das Konfliktgebiet Ukraine und Russland bis auf weiteres ausgesetzt werden.“ Das Schreiben sei auch freien Schulen übermittelt worden, teilt ein Sprecher des Bildungsministeriums auf Anfrage des Berliner KURIER mit. Doch das Ministerium hat laut eigenen Angaben kaum Einflussmöglichkeiten.
Die Reise der Schüler sei dem Ministerium vorab nicht bekannt gewesen. „Beide Schulen sind Schulen in freier Trägerschaft und haben daher verfassungsrechtlich eine Selbstbestimmungsfreiheit. Sie unterliegen nicht den Regelungen für Wandertage und Klassenfahrten, wie sie für staatliche Schulen gelten“, so der Sprecher. Zudem sei die Fahrt auch keine Klassenfahrt, sondern eine Schülerfahrt und damit nicht verpflichtend gewesen. Die Schulaufsicht habe damit keine Handhabe gegen solche Fahrten. Am Ende sei es eine Entscheidung der Eltern gewesen.
Darauf verweist auch die Waldorfschule Weimar, gegenüber ntv und stellte klar: „Dass es sich nicht um eine Reise der Schule handelte, da dies in diesen Zeiten nicht möglich ist, sondern um eine Initiative der Eltern unserer Schülerinnen und Schüler“. Für die Eltern von mehr als einem Dutzend Kindern schien das Risiko und die Pietätlosigkeit der Fahrt anscheinend aber kein Problem darzustellen.
Update 27. Oktober 2023: In einer früheren Fassung des Beitrags hieß es, die Waldorfschulen Erfurt und Weimar hätten Schüler mitten im Angriffskrieg nach Russland geschickt und eine Klassenfahrt durchgeführt. Hierzu stellen wir richtig: Es handelte sich nicht um eine schulische Fahrt oder ein Angebot der Schulen, sondern um eine private Initiative einzelner Schüler/-innen und deren Eltern. Die Waldorfschulen haben die Fahrt weder veranlasst noch durchgeführt oder verantwortet. Es handelte sich nicht um eine Klassenfahrt.