Kaviar und SUVs: MDR-Beitrag macht Stimmung gegen ukrainische Flüchtlinge
Eigentlich wollte der öffentlich-rechtliche Sender über die Tafeln berichten. Doch nun wird er von der russischen Propaganda missbraucht.

Sie fahren mit dem SUV bei der Tafel vor und fordern Kaviar – mit diesen Vorwürfen polarisiert ein Beitrag des MDR Thüringen zum Thema ukrainische Flüchtlinge. Doch bei genauem Hinschauen entpuppen sich die Vorwürfe zum Großteil als unbegründet.
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Der Artikel des MDR Thüringen erschien bereits am Wochenende. Zuvor hatte die Autorin Grit Hasselmann die örtliche Tafel besucht. Die Gesprächspartner dort berichten von einer hohen Belastung. Manche Ehrenamtliche wollen gar ihre Hilfe einstellen, weil es zu viele Hilfesuchende gebe. So habe sich das Besuchervolumen seit Jahresbeginn beinahe verdoppelt.
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Auch in Berlin ist die Zahl der Tafel-Kunden seit Jahresbeginn erheblich gestiegen. „Wir hatten im Januar und Februar noch 40.000 Menschen, die im Monat zu uns kamen. Im Juli waren es schon 75.000 pro Monat“, so Antje Trölsch, Geschäftsführerin der Berliner Tafeln.
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Ukrainische Geflüchtete wollen Kaviar
Doch besonders störe die betroffenen Mitarbeiter in Weimar, so heißt es im MDR-Beitrag, dass ukrainische Geflüchtete wählerisch seien. So zeigt der Sender in dem Onlineartikel einen in deutscher Schreibschrift geschriebenen „Einkaufszettel“, den ukrainische Flüchtlinge dort gelassen haben sollen. Darauf steht unter anderem „Kaviar“.
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Mittlerweile teilt der Bundesverband Tafel Deutschland mit, dass der angebliche Einkaufszettel gar keiner sei. „Die Weimarer Tafel hat ihre ukrainischen Kund:innen im Frühjahr gefragt, welche Lebensmittel sie mögen und sich wünschen. Ein Dolmetscher hat das aufgeschrieben“, heißt es von den Tafeln. Man habe damit auch ab 2015 gute Erfahrungen gemacht. Es solle helfen, die Kommunikation mit den Kunden zu vereinfachen.
In der Ukraine gilt Kaviar keineswegs als ungewöhnliche Delikatesse wie in Deutschland. Seit Sowjetzeiten ist es dort üblich an Geburtstagen und zu Neujahr die Fischeier auf dem Tisch zu packen. Eine kleine Dose roter Kaviar kostet dabei nur ein paar Euro.
Ansonsten wünschten sich die Kunden Artikel wie Käse, Quark, Joghurt, Garnelen und Fisch – alles keine sonderlichen Luxusprodukte.
Prinzip der Tafeln nicht verstanden
Sind die Ukrainer also verwöhnt? Das Hauptproblem sei eher, dass manche Kunden das Prinzip der Tafel nicht verstehen würden, erklärt der Weimarer Tafel-Leiter Marco Modrow im Beitrag. Möglicherweise, so Modrow, sei den Ukrainerinnen und Ukrainern dieses System nicht bekannt. Außerdem kämen die Ukrainer „aus einem Land mit einem europäischen Lebensstandard“, sagt er.
So wären manche Ukrainer pikiert, weil Lebensmittel mitunter leicht welk wären oder Druckstellen hätten. Auch käme es vor, dass manch einer den Beitrag für das Auffüllen der Tüte mit einem größeren Geldschein bezahle. „Dann versuchen wir das im Erstgespräch zu erläutern und hoffen, dass dann jemand auch so ehrlich ist und sagt: Ok, dann gehe ich wieder. Ich hab es nicht nötig“, so Modrow in einem dazugehörigen, längeren Interviewbeitrag. Bei einer Anfrage des Berliner KURIER am Montag war Modrow für weitere Rückfragen nicht zu erreichen.
Auch Antje Trölsch, Geschäftsführerin der Berliner Tafeln kann diese Angaben bestätigen. „Viele Geflüchtete kennen das Prinzip Tafel nicht“, sagt sie. Deshalb würden Mitarbeiter und Helfer den Kunden das System auch erstmal erklären müssen. „Wir sind kein Supermarkt, sondern geben Produkte aus, wie wir sie eben haben“, so Trölsch. Das sei vielen nicht gleich klar.
Autokennzeichen stammt aus Orten des Grauens
Auch ein weiterer Vorwurf in dem MDR-Beitrag bedient Vorurteile gegen Ukrainer. So heißt es, der Parkplatz der Tafel würde von SUVs, also großen Geländewagen, zugeparkt. „Manchmal kommt man kaum noch durch. Große, teure Autos sind dabei und alle haben ukrainische Nummernschilder. Man muss doch nicht mit dem SUV zur Tafel fahren!“, zitiert der MDR-Artikel eine Mitarbeiterin der Weimarer Tafel.
Zum Beweis wird ein Bild eines Fahrzeugs mit ukrainischem Kennzeichen im Beitrag gezeigt. In der Bildunterschrift heißt es dazu: „Mehrere SUV, Mercedes, BMW und VW sieht man neuerdings auf dem Tafel-Parkplatz“. Jedoch: Auf dem Bild ist lediglich ein Subaru zu sehen. Also ein Mittelklassefahrzeug, das auch in Deutschland keineswegs im gleichen Segment angesiedelt ist wie BMW oder Mercedes.
Auf Nachfrage gibt die Autorin des MDR-Beitrags, Grit Hasselmann, an: „Das Foto illustriert die Aussage der Tafel-Mitarbeiterin. Es ergibt aus meiner Sicht keinen Sinn, noch mehr Fotos vom gesamten Parkplatz bzw. weiteren Autos zu zeigen.“
Dass sie ausgerechnet dieses Bild zur Illustration ihres Beitrags gewählt hat, ist aber auch aus einem anderen Grund problematisch. Das ukrainische Kennzeichen KA steht für den Oblast Kyjiw, also die Vororte außerhalb der ukrainischen Hauptstadt. Zu diesen gehören auch die Städte Borodjanka, Irpin und Butscha. Gerade in diesen Orten wurden viele Häuser zerstört, Zivilisten gezielt ermordet. Wer fliehen konnte, floh. Auf Nachfrage gibt Hasselmann an, den Fahrer befragt zu haben. Dieser habe sich nicht äußern wollen.

Aber bedeutet der Besitz eines SUVs automatisch, dass die Besitzer nicht hilfsbedürftig sind? „Man weiß nicht, was die Menschen hinter sich haben. Vielleicht wurden sie ausgebombt und haben nur noch das Auto und ein paar Habseligkeiten“, sagt Antje Trölsch von der Berliner Tafel. Ohnehin müsse jeder Tafel-Kunde die Bedürftigkeit in Form eines Bescheides über Transferleistungen des Staates nachweisen. Sonst würde man gar nicht aufgenommen.
Deutsche Behörden können Sozialbetrug nachverfolgen
Eine Überprüfung der Vermögen steht dem Amt zu. Einer Recherche des Netzwerks Correctiv zufolge haben die deutschen Behörden durchaus Möglichkeiten, Sozialbetrug aufzuspüren.
Dennoch sei auch das Vorhandensein von Geld in der Ukraine erstmal kein Ausschlussgrund für Bedürftigkeit. „Da ist auch wieder die Frage, inwieweit die Geflüchteten Zugriff auf etwaige Konten haben“, sagt Antje Trölsch von den Berliner Tafel. Auch könne das Geld den Menschen bald ausgehen. Insgesamt würden die Gerüchte über angeblichen Sozialbetrug sie eher an eine andere Situation erinnern. „Als die Flüchtlinge 2015 und 2016 kamen, hatten wir genau die gleichen Erzählungen“, sagt sie.

Nur eine Ukrainerin kommt zum Thema zu Wort
Ein Grund, warum der Beitrag rechte Narrative bedient, ist auch, dass es dem Artikel beinahe vollständig an ukrainischen Stimmen mangelt. Lediglich eine Ukrainerin kommt zu Wort. Diese gibt auch an, nur mit zwei Koffern nach Deutschland gekommen zu sein und nicht mehr auf ihr Konto zugreifen zu können.
Warum hat die Autorin des MDR-Beitrags also keine weiteren Stimmen zitiert? „Ich war mehrere Tage dort und habe mit vielen geflüchteten Ukrainerinnen gesprochen“, sagt Hasselmann. „Einige davon wollten nicht zitiert werden, andere Aussagen hätten aus meiner Sicht zu sehr bestehende Vorurteile bedient, so dass ich mich gegen ein Zitieren dieser Aussagen entschieden habe.“
Autorin verbreitet auf Facebook Vorurteile gegen die Ukraine
Ein Blick auf das Facebook-Profil von Grit Hasselmann wirft dabei jedoch mindestens Fragen auf. Dort finden sich mehrere Beiträge und Kommentare mit russischen Narrativen. So schreibt sie dort unter anderem, die Ukraine sei „kein demokratischer Staat“, in dem Land würden „Pogrome gegen Sinti und Roma“ stattfinden und Minderheiten werde verboten, ihre Muttersprache zu sprechen. Keiner dieser Vorwürfe stimmt jedoch.
Auf Nachfrage, ob sie die Ukraine für eine Demokratie halte, relativiert sie: „Der Demokratieindex der Universität Würzburg platziert die Ukraine in seinem Ranking auf Platz 92 von 176.“ Wegen des Kriegsrechts solle man das Land aber nicht hinsichtlich seiner Demokratie beurteilen.
Hasselmann gibt zudem an, seit Kriegsbeginn ukrainische Flüchtlinge unterstützt zu haben, wie auch andere Flüchtlinge zuvor.
Russische Propagandakanäle spenden Applaus
Hasselmann sei es vor allem darum gegangen, über die schwierige Situation bei den Tafeln zu berichten. Eine Vereinnahmung habe sie zwar befürchtet. „Dieses Problem hatte ich auch schon bei anderen Artikeln“, sagt sie. „Mich stört das sehr. Aber es wäre extrem schädlich für Pressefreiheit und Demokratie, wenn Journalisten deshalb bestimmte Themen ‚vermeiden‘ würden.“
Doch hilfreich war der Beitrag für die Geflüchteten wohl kaum. Auf einem russische Propagandakanal auf Telegram wird der Artikel bereitwillig aufgegriffen. Dort heißt es: „Dicke Autos und 100-Euro-Scheine bei deutschen Hilfseinrichtungen – reiche ukrainische Flüchtlinge in Deutschland stürmen die ‚Tafeln‘ und benehmen sich ungehobelt - sagt der MDR“.