In den 90ern entschied sie

Angela Merkel: „Wenn ich über die DDR erzähle, dann immer mit der Schere im Kopf“

Ein Erlebnis in den 90ern veränderte die Ex-Bundeskanzlerin (70). Im Interview mit der Berliner Zeitung sprach sie jetzt über Demütigungen als Ostdeutsche, über Putin und den Ukraine-Krieg.

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Angela Merkel im Interview mit Tomasz Kurianowicz, Chefredakteur der Berliner Zeitung, und Anja Reich, Leiterin Dossier.
Angela Merkel im Interview mit Tomasz Kurianowicz, Chefredakteur der Berliner Zeitung, und Anja Reich, Leiterin Dossier.Ina Schoenenburg/Ostkreuz

Angela Merkel (CDU) ist seit drei Jahren nicht mehr Bundeskanzlerin. Die Welt ist heute eine andere, eine kriegerische. Gut zehn Wochen nach Merkels letztem Tag als Bundeskanzlerin überfielen Putins Truppen die Ukraine. Wäre das auch passiert, wenn Merkel noch Regierungschefin gewesen wäre? Sie selbst schreibt in ihren Erinnerungen, Putin habe ihr gesagt: „Du wirst nicht ewig Bundeskanzlerin sein. Und dann werden die Ukraine und Georgien Nato-Mitglied.“ Jetzt sprach die Ex-Bundeskanzlerin (70) mit der Berliner Zeitung über Putin und den Krieg gegen die Ukraine, über die Sicht der Ostdeutschen und ihre eigene auf den Konflikt.

Auf die Frage, ob es mit Merkel als Bundeskanzlerin Putins Krieg gegen die Ukraine nicht gegeben hätte, sagt sie heute: „Das kann kein Mensch beantworten. Ich habe mit der aktiven Politik aufgehört, und das war richtig.“ Sie würde eine andere Frage stellen: Hätte es ohne Pandemie diesen Krieg gegeben, wenn man mehr persönlich miteinander gesprochen hätte? „Als Putin 2021 seine Truppen an der russisch-ukrainischen Grenze versammelt hatte und Präsident Biden uns beim G20-Gipfel im Oktober 2021 darauf hinwies, hätten ich und andere Putin normalerweise sofort beiseite genommen und gesagt: Was soll das, wo führt das hin? Wegen Corona aber war Putin gar nicht gekommen.“

„Zu verstehen, was Putin macht, sich in ihn hineinzuversetzen, ist nicht falsch“

Und wie löst man den Konflikt? „Ich glaube, man kann schaffen, dass Russland den Krieg nicht gewinnt und somit die Ukraine eine Zukunft als souveräner Staat in Frieden und Freiheit hat“, sagt die Ex-Bundeskanzlerin der Berliner Zeitung. Militärisch allein gelinge dieses aber nicht. „Ohne Diplomatie wird man dieses Ergebnis nicht erreichen. Ich bin jetzt nicht die Verhandlerin, aber es sollte das Ziel sein, und es sollte gelingen.“

Diplomatie, Verhandlungen – das bringt natürlich auch eine Auseinandersetzung mit Putins Sicht auf den Westen und die Nato-Osterweiterung mit sich. Die Altkanzlerin lehnt eine abwertende Verwendung des Schlagworts „Putin-Versteher“ grundsätzlich ab. „Zu verstehen, was Putin macht, sich in ihn hineinzuversetzen, ist nicht falsch“, sagt Merkel der Berliner Zeitung. Dies sei eine grundlegende Aufgabe der Diplomatie und etwas anderes als Putin-Unterstützer. „Es gibt keinerlei Entschuldigung dafür, dass er ein anderes Land überfällt. Aber den Diskurs über die Interessen Russlands muss man zulassen.“ Der Vorwurf „Putin-Versteher“ sei ein Totschlagargument.

Die Stimmung in Ost und West zum Krieg in der Ukraine unterscheidet sich. In Ostdeutschland gibt es weniger Pro-Ukraine-Stimmen, mehr Stimmen, die verlangen, dass man auf Putin zugehen soll. „Ich glaube, viele Ostdeutsche haben den Eindruck, dass dieser Krieg schwer gewinnbar ist für die Ukraine, und vertreten die Annahme, sich mit Russland besser gar nicht erst anzulegen, weil man sowieso nicht erfolgreich sein kann“, sagt Angela Merkel im Gespräch mit der Berliner Zeitung. „Das mag ein Denken aus Sowjetzeiten sein. Ich denke nicht so. Ich glaube, das kann man schaffen.“

Angela Merkel: Kränkungen als Ostdeutsche

In ihrer Rede zum Tag der Deutschen Einheit im Jahr 2021 erzählte Angela Merkel bei einem Festakt in Halle an der Saale, dass sie einmal von einem westdeutschen Journalisten als angelernte Bundesdeutsche bezeichnet worden wäre, sie das als Demütigung empfand. „Ein anderes Mal wurde über mich geschrieben, ich sei mit dem Ballast der DDR-Biografie in die deutsche Einheit gekommen. Das hat mich sehr aufgeregt, weil ich mich gefragt habe: Wann hört es auf?“, sagt Angela Merkel heute. „Ist man ‚einmal angelernt, immer angelernt‘?“

So was gäbe es immer noch, grundsätzlich sind solche Bewertungen nicht vorbei. „Deshalb ist es wichtig, das zu thematisieren. Wenn ich auf Lesungen darüber berichte, sind die Leute richtig erschrocken, nicht nur der Saal in Stralsund, auch der Saal in Köln“, sagt sie.

Lange Zeit hatte die Ex-Bundeskanzlerin nicht über solche kränkenden Erfahrungen, als Ex-DDR-Bürgerin in der Bundesrepublik berichtet. „Offensichtlich habe ich dazu für mich keinen Weg gefunden“, sagt die 70-Jährige. Diese Hemmung fügt die Politikerin auf ein prägendes Erlebnis zurück.

Angela Merkel in ihrem Büro in Berlin-Mitte. Angela Merkels Büro befindet sich zwischen russischer und britischer Botschaft in der Straße Unter den Linden, Ecke Wilhelmstraße.
Angela Merkel in ihrem Büro in Berlin-Mitte. Angela Merkels Büro befindet sich zwischen russischer und britischer Botschaft in der Straße Unter den Linden, Ecke Wilhelmstraße.Ina Schoenenburg/Ostkreuz

„Anfang der 90er-Jahre war das, als ich in einer öffentlichen Veranstaltung einmal völlig unbefangen von meiner Arbeit im Fach Marxismus-Leninismus erzählt habe“, erzählt sie im Gespräch mit der Berliner Zeitung. „Danach ging eine regelrechte Jagd nach dieser Arbeit los. Dass ich sie einfach nicht mehr hatte, wurde mir nicht geglaubt, sondern vorgehalten, ich hätte wohl etwas zu verbergen. Danach habe ich für mich entschieden: Wenn ich etwas über die DDR erzähle, dann immer mit der Schere im Kopf. Bitte nicht wieder so eine Jagd!“

Sie hätte so viel zu tun gehabt, so viele Krisen zu bewältigen. „Diese Schere gab es, aber zum Schluss habe ich sie überwunden und über diese Kränkungen berichtet. Und das wollte ich dann unbedingt in meiner letzten Rede als Bundeskanzlerin zum 3. Oktober, also noch im Amt“, sagt Angela Merkel.