Computerfehler können ärgerlich sein - oder Leben zerstören. In Großbritannien schlägt gerade eine Fernsehserie hohe Wellen, die einen der größten Justizirrtümer in der Geschichte des Landes schildert. Zwischen 1999 und 2015 wurden etwa 700 Mitarbeiter der staatlichen Postämter strafrechtlich verfolgt, weil sie angeblich Gelder der Post gestohlen hatten. In Wirklichkeit kamen die Fehlbeträge aber durch ein fehlerhaftes Computerprogramm zustande.
Statt den zunehmenden Hinweisen auf Probleme bei dem Computersystem namens Horizon nachzugehen, machte die Führung der britischen Post ihre Mitarbeiter verantwortlich und verlangte von ihnen, die Fehlbeträge aus eigener Tasche auszugleichen. Viele verschuldeten sich deswegen, manche verloren ihre Häuser.
Damit nicht genug. Viele Postbeamte kamen wegen Diebstahls in Haft. Andere bekannten sich entgegen der Tatsachen vor Gericht schuldig, um dem Gefängnis zu entgehen. Für viele bedeutete die Strafverfolgung soziale Isolation. Vier der Betroffenen begingen Suizid, andere starben, ohne rehabilitiert worden zu sein.

Ein breites Bewusstsein für dieses himmelschreiende Unrecht schuf jetzt die TV-Serie „Mr Bates vs. The Post Office“, die vergangene Woche im britischen Sender ITV lief. Erzählt wird die Geschichte von Alan Bates, gespielt von dem preisgekrönten Schauspieler Toby Jones, der 2017 im Namen von 555 Betroffenen gegen die britische Post klagte, um ihre Unschuld zu beweisen.
Vier der Betroffenen begingen Suizid
Der Vierteiler zeigt etwa, wie die Postbeamtin Jo Hamilton wegen einer fehlerhaften Abrechnung eine Hotline des Staatsunternehmens anruft. Noch während sie spricht, verdoppelt sich der Fehlbetrag vor ihren Augen auf dem Computerbildschirm. Was sie damals nicht wusste: Schuld war die Software Horizon des japanischen Technologieriesen Fujitsu, die die britische Post seit Ende der 90er Jahre installierte.
Hamilton wurde zu Unrecht wegen des Diebstahls von 36.000 Pfund (42.000 Euro) angeklagt. Obwohl sie keinen Penny veruntreut hatte, bekannte sie sich schuldig, um einer Gefängnisstrafe zu entgehen. Wie ihr ging es vielen anderen Postmitarbeitern. 236 andere mussten tatsächlich ins Gefängnis.
Wegen der Untreuevorwürfe erlebten die Betroffenen soziale Ächtung. Jess Kaur schilderte kürzlich auf ITV, dass Kunden in ihrem Postamt angewidert vor ihr ausspuckten. Kaur wurde unschuldig vor Gericht gezerrt. „Es hat mich so fertig gemacht, dass ich versucht habe, Selbstmord zu begehen“, erzählte sie.

Nur 93 Verurteilungen wurden bislang aufgehoben
Nach der TV-Serie ist die Empörung über den Skandal groß. Schon mehr als eine Million Menschen haben eine Petition unterzeichnet, die fordert, der früheren Post-Chefin Paula Vennells eine Ehrung zu entziehen, die sie von der früheren Königin Elizabeth II. erhalten hatte.
Premierminister Rishi Sunak sprach am Montag von einem „schrecklichen Justizirrtum“, der „nie hätte passieren dürfen“. Seine Regierung werde „alles in ihrer Macht Stehende tun“, damit alle Betroffenen entschädigt würden.
Alan Bates und seine Mitstreiter hatten nach zweijährigem Prozess im Dezember 2019 erreicht, dass das High Court grundsätzlich feststellte, dass Computerfehler und nicht Straftaten die Ursache für die Fehlbeträge waren. Der Richter hielt der Post „institutionelle Halsstarrigkeit“ vor, da sie die wahren Ursachen der Abrechnungsprobleme nicht ordentlich untersucht habe. Tatsächlich gingen die Anwälte der Post auch dann noch gegen unschuldige Mitarbeiter vor, als es glaubwürdige Hinweise auf Horizon als Fehlerquelle gab.
Der Skandal ist noch lange nicht aufgearbeitet. Nur 93 Verurteilungen wurden bislang aufgehoben. An einen Teil der Betroffenen flossen bislang 21 Millionen Pfund an Entschädigungsgeldern.

Horizon ist bis heute in Betrieb
Im September hatte die Regierung angekündigt, jeder Betroffene erhalte 600.000 Pfund wegen des erlittenen Unrechts. Stattdessen könnten sie aber auch den Klageweg beschreiten, um höhere Entschädigungen zu erstreiten.
Der für Unternehmen zuständige Staatssekretär Kevin Hollinrake versicherte am Montag, die Regierung arbeite an „Optionen“, um die unrechten Urteile schneller aufzuheben. Auch die im Februar 2022 eingeleitete Untersuchung, wer im Post-Management wann von den ungerechtfertigten Vorwürfen wusste, ist noch nicht abgeschlossen.
Der Abgeordnete Kevan Jones, der im Ausschuss zur Entschädigung der Opfer sitzt, hebt hervor, wie in der ITV-Serie gezeigt habe der Justizskandal enormen „Schmerz“ und „zerstörte Leben“ verursacht. Alle ungerechtfertigten Urteile aufzuheben, sei nicht einfach. Schließlich würden viele Betroffene „wegen des Traumas nicht mal in die Nähe eines Gerichts gehen“. ■