Mut bis zum letzten Atemzug – bei aller Trauer um Alice und Ellen Kessler verdient ihre Entscheidung, gemeinsam das Leben zu verlassen, Respekt. Wir müssen in Deutschland dringend über das Sterben reden – und wir müssen aufhören, Menschen, die frei über ihr Ende entscheiden wollen, zu stigmatisieren. Zugegeben, die Vorstellung, wie die weltberühmten Zwillinge ihren Doppel-Suizid über Monate geplant haben, ist makaber. Warum es sich zu leben lohnt, ist aber die Entscheidung eines jeden Einzelnen und nicht die Entscheidung der Gesellschaft.
In Deutschland muss man Schmerz und Krankheit ertragen
In Deutschland hat man das Alter zu ertragen – mit Würde. Man soll Schmerz und Krankheit meistern und dabei möglichst niemandem auf die Nerven gehen. Altern ist aber nicht schön in unserem Land. Die wenigsten Familien kümmern sich um ihre Alten, die Rente reicht bei den meisten nicht, die Pflegeheime sind voll – und die guten sind überteuert. Was unsere Gesellschaft von alten Menschen verlangt und wie sie behandelt werden, das ist der Skandal und nicht, dass die Kessler-Zwillinge sich für den Tod entschieden haben
Wer hätte die Kessler-Zwillinge in den Arm genommen?
Die Kessler-Zwillinge werden ihre Gründe gehabt haben, mir reicht das. Sie wollten vielleicht nicht zu Nummern im Verdienst-System der Pflege- und Pharmaindustrie werden. Die bittere Wahrheit ist: Unsere Heime sind voll von Menschen, die, wenn sie noch frei entscheiden dürften, nie so leben wollen würden. Sie werden in den Tod gepflegt. Meiner schwer dementen Großmutter wurde noch eine künstliche Hüfte verpasst. Während die arbeitende Bevölkerung wochen- oder monatelang auf einen Arzttermin wartet, bekam sie als Privatpatientin drei- bis viermal die Woche Besuch vom Doktor. Wobei uns, ihrer Familie, schon ein paar Monate nach ihrem Umzug ins Heim gesagt wurde, dass es keine Chance auf Besserung mehr gebe.

Zehn Jahre hat meine Großmutter so vor sich hin vegetiert. Was sie aber hatte: Sie hatte noch Menschen, die sie in den Arm genommen haben. Die sie geküsst und gestreichelt haben, die mit ihr gesprochen haben, auch wenn sie schon lange nichts mehr hören konnte. Wer hätte die Kessler-Zwillinge in den Arm genommen? Stellt sich diese Frage jemand, wenn er über die großen Künstlerinnen urteilt? Sie waren gegenseitig ihre Familie, sie hatten nur sich. Hätten wir als Gesellschaft die „Beine der Nation“ bettlägerig noch bewundert?
Aktive Sterbehilfe muss erlaubt werden
Die Antwort ist nein. Die Politik ist für die Zustände in der Gesellschaft verantwortlich. Der aktuelle Rentenstreit zeigt, dass die Versorgung der alten Menschen in Deutschland immer schlechter wird. Das ist das eine, was die Regierung mit aller Kraft verbessern muss. Eine andere Sache ist: Leute, die nicht mehr leben wollen, müssen diese Entscheidung treffen dürfen. Sie müssen Beratung über begleitetes Sterben bekommen und ja – sie müssen auch Zugang zu Ärzten bekommen, die den letzten Weg mit ihnen gehen. Der Bundestag muss nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus 2020 (!) die Sterbehilfe endlich neu regeln.




