Debatte um die Sterbehilfe

Die Kessler-Zwillinge zeigen uns, dass Würde wichtiger ist als Angst

Die Kessler-Zwillinge entschieden sich für den Tod. Ihr Schritt zeigt: Deutschland muss endlich offen über Sterbehilfe und selbstbestimmtes Sterben sprechen.

Author - Daniel Cremer
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Sie starben gemeinsam - und auf ihren eigenen Wunsch: Alice und Ellen Kessler wählten den assistierten Suizid, um ihr Leben zu beenden.
Sie starben gemeinsam - und auf ihren eigenen Wunsch: Alice und Ellen Kessler wählten den assistierten Suizid, um ihr Leben zu beenden.Bernd Weißbrod/dpa

Mut bis zum letzten Atemzug – bei aller Trauer um Alice und Ellen Kessler verdient ihre Entscheidung, gemeinsam das Leben zu verlassen, Respekt. Wir müssen in Deutschland dringend über das Sterben reden – und wir müssen aufhören, Menschen, die frei über ihr Ende entscheiden wollen, zu stigmatisieren. Zugegeben, die Vorstellung, wie die weltberühmten Zwillinge ihren Doppel-Suizid über Monate geplant haben, ist makaber. Warum es sich zu leben lohnt, ist aber die Entscheidung eines jeden Einzelnen und nicht die Entscheidung der Gesellschaft.

In Deutschland muss man Schmerz und Krankheit ertragen

In Deutschland hat man das Alter zu ertragen – mit Würde. Man soll Schmerz und Krankheit meistern und dabei möglichst niemandem auf die Nerven gehen. Altern ist aber nicht schön in unserem Land. Die wenigsten Familien kümmern sich um ihre Alten, die Rente reicht bei den meisten nicht, die Pflegeheime sind voll – und die guten sind überteuert. Was unsere Gesellschaft von alten Menschen verlangt und wie sie behandelt werden, das ist der Skandal und nicht, dass die Kessler-Zwillinge sich für den Tod entschieden haben

Wer hätte die Kessler-Zwillinge in den Arm genommen?

Die Kessler-Zwillinge werden ihre Gründe gehabt haben, mir reicht das. Sie wollten vielleicht nicht zu Nummern im Verdienst-System der Pflege- und Pharmaindustrie werden. Die bittere Wahrheit ist: Unsere Heime sind voll von Menschen, die, wenn sie noch frei entscheiden dürften, nie so leben wollen würden. Sie werden in den Tod gepflegt. Meiner schwer dementen Großmutter wurde noch eine künstliche Hüfte verpasst. Während die arbeitende Bevölkerung wochen- oder monatelang auf einen Arzttermin wartet, bekam sie als Privatpatientin drei- bis viermal die Woche Besuch vom Doktor. Wobei uns, ihrer Familie, schon ein paar Monate nach ihrem Umzug ins Heim gesagt wurde, dass es keine Chance auf Besserung mehr gebe.

Die Kessler-Zwillinge gingen gemeinsam durchs Leben - und sie wollten es gemeinsam beenden. Der Wunsch wurde am Montag erfüllt.
Die Kessler-Zwillinge gingen gemeinsam durchs Leben - und sie wollten es gemeinsam beenden. Der Wunsch wurde am Montag erfüllt.Dieter Klar/dpa

Zehn Jahre hat meine Großmutter so vor sich hin vegetiert. Was sie aber hatte: Sie hatte noch Menschen, die sie in den Arm genommen haben. Die sie geküsst und gestreichelt haben, die mit ihr gesprochen haben, auch wenn sie schon lange nichts mehr hören konnte. Wer hätte die Kessler-Zwillinge in den Arm genommen? Stellt sich diese Frage jemand, wenn er über die großen Künstlerinnen urteilt? Sie waren gegenseitig ihre Familie, sie hatten nur sich. Hätten wir als Gesellschaft die „Beine der Nation“ bettlägerig noch bewundert?

Aktive Sterbehilfe muss erlaubt werden

Die Antwort ist nein. Die Politik ist für die Zustände in der Gesellschaft verantwortlich. Der aktuelle Rentenstreit zeigt, dass die Versorgung der alten Menschen in Deutschland immer schlechter wird. Das ist das eine, was die Regierung mit aller Kraft verbessern muss. Eine andere Sache ist: Leute, die nicht mehr leben wollen, müssen diese Entscheidung treffen dürfen. Sie müssen Beratung über begleitetes Sterben bekommen und ja – sie müssen auch Zugang zu Ärzten bekommen, die den letzten Weg mit ihnen gehen. Der Bundestag muss nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus 2020 (!) die Sterbehilfe endlich neu regeln.

Aktive Sterbehilfe muss entkriminalisiert werden, so wie in Belgien, den Niederlanden, Luxemburg und Spanien. Der aktuelle Zustand bedeutet nämlich faktisch, dass sich nur wohlhabende Menschen in der rechtlichen Grauzone die entsprechende Beratung und die nötigen Medikamente beschaffen können. Auch beim Tod muss der freie Wille gelten. Die Kessler-Zwillinge haben ihre Entscheidung getroffen. Sie haben auf ihr Leben geblickt und haben entschieden: Es reicht. Diese Entscheidung war allein ihre Entscheidung. Diese Entscheidung verdient unseren Respekt