Beinahe im Minutentakt treffen neue Nachrichten aus allen Gebieten in Syrien ein. Überall sind die Truppen von Diktator Baschar al-Assad auf dem Rückzug. Und auch in einer Stadt, in der die syrische Revolution 2011 einst begann, melden die Regimegegner Erfolge. Es wird immer weniger wahrscheinlich, dass Bashar al-Assad die Vorstöße politisch überlebt.
„Seit dem Fall von Hama gestern bezeugt Syrien außergewöhnliche Ereignisse“, schreibt Syrien-Experte Charles Lister auf der Nachrichtenplattform X (zuvor Twitter). „Assads Zukunft ist mittlerweile sehr fraglich.“
Nach der Einnahme der Großstädte Aleppo und Hama im Nordwesten des Landes befänden sich die Anti-Regime-Kämpfer unter Führung der islamistischen Miliz Hajat Tahrir al-Scham (HTS) und ihrer Verbündeten nur noch fünf Kilometer von der Stadt Homs entfernt, erklärte am Freitag die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte. HTS-Anführer Abu Mohammed al-Dscholani bekräftigte das Ziel, Machthaber Baschar al-Assad zu stürzen.

Hama gefallen, Entscheidungsschlacht um Homs
Das syrische Verteidigungsministerium erklärte seinerseits, es habe in der Provinz Hama „Fahrzeuge und Versammlungen“ von „Terroristen“ beschossen. Dabei seien Artillerie, Raketen und syrische wie russische Kampfflugzeuge zum Einsatz gekommen, hieß es. Zudem entsandte die Armee eigenen Angaben nach Verstärkung nach Homs. Menschenrechtsaktivisten veröffentlichten jedoch vielfach Bilder, von getroffenen Krankenhäusern.
Homs ist nach der Hauptstadt Damaskus und Aleppo die drittgrößte Stadt des Landes. Sie ist auch ein extrem wichtiger Verkehrsknotenpunkt, der die Gebiete an der Küste mit vielen regimetreuen Hochburgen mit der Hauptstadt Damaskus verbindet. Sollte die Verbindung gekappt werden, wäre dies ein erster Todesstoß für das Regime. Auf dem Weg Richtung Homs seien die HTS und ihre Verbündeten in die Städte Rastan und Talbisseh eingedrungen, erklärte die Beobachtungsstelle. Es sei eine „völlige Abwesenheit“ von Truppen der Assad-Regierung in diesen beiden Städten festzustellen gewesen. Videos zeigen indes, dass die das Assad-Regime stürzenden russischen Truppen Kampfhubschrauber und Flugzeuge aus Homs in Richtung Damaskus und der Küste abzogen.

Kurden-Kämpfer schützen Stadt vor IS
Am Freitag zog sich laut der Beobachtungsstelle die Armee auch aus der im Osten des Landes gelegenen Stadt Deir Essor zurück. Die „Regimekräfte“ hätten sich gemeinsam mit Anführern verbündeter pro-iranischer Gruppen „plötzlich“ aus Deir Essor und dessen Umland zurückgezogen, ganze Konvois mit Soldaten bewegten sich in Richtung Zentralsyrien, teilte der Chef der Beobachtungsstelle, Rami Abdel Rahman, der Nachrichtenagentur AFP mit.
Videos aus den sozialen Netzwerken zeigen indes, dass Kämpfer der Demokratischen Kräfte Syriens unter Führung kurdischer Selbstverteidigungseinheiten in Deir Essor eingerückt sind. Dies soll vor allem verhindern, dass der Islamische Staat sich dort festsetzt. Die Stadt war zwischen 2013 und 2017 umkämpft, wurde mehrfach auch vom IS besetzt, bis Regierungstruppen die islamistischen Terroristen vertrieben.
Angesichts des Vorrückens der islamistischen Milizen äußerten die in Teilen von Nordsyrien herrschenden kurdischen Kräfte ihre Bereitschaft zu Gesprächen. Die Offensive deute auf eine „neue politische und militärische Realität“, sagte der Anführer der Demokratischen Kräfte Syriens (SDF), Maslum Abdi, vor Journalisten. Die SDF wollten ihre „Probleme“ mit der HTS und der ihr nahestehenden Türkei „durch Dialog“ lösen. Auch unter Kurden und Jesiden gibt es viele Bedenken bezüglich des Vorrückens der islamistischen Milizen.

Symbolträchtige Stadt Daraa steht vor Befreiung
Auch aus Daraa im Süden Syriens werden Kämpfe gemeldet. Die Rebellen der dortigen Freien Syrischen Armee haben in der Provinz die ersten Armeestützpunkte überrannt. Zudem seien in einigen Orten die ersten Flaggen des freien Syriens gehisst worden. Auch mindestens ein Grenzübergang zu Jordanien soll in der Hand der Aufständischen sein.
Daraa ist wiederum für die Regimegegner ein symbolischer Ort, denn in der Stadt in der Nähe der Grenze zu Jordanien hatten 2011 die ersten Proteste gegen das Assad-Regime im Rahmen der Revolutionen des sogenannten Arabischen Frühlings stattgefunden. Bis zuletzt gab es dort immer wieder Proteste gegen die Regierung.
This is the Omaree Mosque in Daraa, the first spot where the Syrian revolution started. pic.twitter.com/SL7VAtRLji
— Asaad Sam Hanna (@AsaadHannaa) December 6, 2024
Regimetreue Syrer flüchten vor vorrückenden Truppen
Durch die jüngsten Kämpfe wurden nach Angaben der UNO 280.000 Menschen in die Flucht getrieben. Wie der Chef der Notfallkoordination des Welternährungsprogramms (WFP), Samer Abdel Jaber, erklärte, könnte diese Zahl auf 1,5 Millionen steigen. Laut der Beobachtungsstelle für Menschenrechte verließen alawitische Syrer aus Furcht vor den Islamisten „massenhaft“ ihre Wohnviertel in Homs.
HTS-Anführer al-Dscholani bekräftigte indes in einem Interview mit dem US-Sender CNN das Ziel seiner Gruppierung, Assad zu stürzen. „Wenn wir über Ziele sprechen, bleibt das Ziel der Revolution der Sturz dieses Regimes. Es ist unser Recht, alle verfügbaren Mittel einzusetzen, um dieses Ziel zu erreichen“, sagte al-Dscholani.
Nach Jahren verhältnismäßigen Stillstands im syrischen Bürgerkrieg hatten vor einer Woche die HTS und mit ihr verbündete Gruppierungen die Großoffensive im Nordwesten des Landes gestartet. Es sind die intensivsten Kämpfe seit vier Jahren. Der Bürgerkrieg war im Jahr 2011 durch Proteste gegen Assad ausgelöst worden.
Ausländische Einflussmächte treffen sich am Samstag
Angesichts des Vormarschs der islamistischen Regierungsgegner wollen sich nach AFP-Informationen am Samstag die Außenminister der Türkei, des Iran und Russlands treffen. Das Treffen werde in der katarischen Hauptstadt Doha im sogenannten Astana-Format stattfinden, hieß es aus Kreisen des Außenministeriums in Ankara. Das Astana-Format ist eine Plattform für Verhandlungen über die Zukunft Syriens.
Die russische Regierung forderte ihre Bürger auf, das Land möglichst über kommerzielle Flüge schnellstmöglich zu verlassen. Der Iran und Russland sind wichtige Verbündete Assads. Die Türkei teilt eine lange Landgrenze mit Syrien und hat fast drei Millionen Flüchtlinge von dort aufgenommen. Ankara unterstützt seit Jahren Aufständische im Norden Syriens, bemühte sich jedoch in den vergangenen Monaten um eine Annäherung an die Regierung des Nachbarlandes.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan drückte am Freitag seine Hoffnung auf einen problemlosen Vormarsch der Islamisten in Syrien aus. Er erklärte: „Idlib, Hama, Homs und natürlich das Ziel, Damaskus: Der Vormarsch der Oppositionellen geht weiter. Wir wünschen uns, dass dieser Vormarsch ohne Zwischenfälle fortgesetzt wird.“
Die Bundesregierung brachte ihren Wunsch zum Ausdruck, dass eine „politische Lösung“ für Syrien geben werde. Assad sei der „Kopf eines Regimes, das in der Vergangenheit vor nichts zurückgeschreckt hat“ und „ein furchtbarer Massenmörder“, sagte ein Sprecher des Auswärtigen Amts. ■