Staatsanwalt sicher

Vergewaltiger filmte seine Taten: Seine Opfer ahnten nichts davon!

Marvin S. aus Berlin wurde bereits verurteilt, nun werden ihm vier weitere Taten aus der Zeit davor vorgeworfen. Er soll seine Opfer betäubt haben.

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Der Angeklagte Marvin S. wollte sich auch im ersten Prozess nicht fotografieren lassen.
Der Angeklagte Marvin S. wollte sich auch im ersten Prozess nicht fotografieren lassen.Pressefoto Wagner

Schock im Gerichtssaal 220 im Kriminalgericht Berlin-Moabit: Der Angeklagte Marvin S. (38) ist kein Unbekannter. Schon einmal wurde er wegen Vergewaltigung verurteilt. Nun steht er erneut vor Gericht: Seit Donnerstag muss er sich wegen vier weiterer Vergewaltigungen an zwei Frauen verantworten. Der Verdacht: Er ist ein Serientäter. Was diesen Fall so speziell macht: Die Opfer wussten nichts von den Taten. Sie haben keine Erinnerungen, hegten keinen Verdacht. Nur die Videos, die der Angeklagte selbst mit dem Handy gefilmt hat, führten auf die Spur des Mannes.

Angeklagter will nicht gesehen werden

Am Donnerstagmorgen lässt sich Marvin S. erst in den Saal führen, als alle Fotografen draußen sind. Er will nicht fotografiert werden – dabei ist er schon vorbestraft. Sein erstes Opfer: eine junge Frau, die er 2022 betäubt hat und vergewaltigte – und sich dabei filmte.

Nun geht es um vier weitere Fälle. Zwei Frauen sollen betroffen sein. Wieder wurden sie betäubt, wieder vergewaltigt, wieder gefilmt – so lautet der Vorwurf der Staatsanwaltschaft. Doch diesmal wird die Anklage unter Ausschluss der Öffentlichkeit verlesen. Ungewöhnlich. „Das passiert sehr selten, es ist eine Ausnahme von der Regel“, sagt Gerichtssprecher Moritz Lehmann. Die beiden Frauen wollten nicht, dass intime Details öffentlich werden. „Es geht um den Schutz der Persönlichkeitsrechte der Opfer.“

Opfer erfuhren erst Jahre später von den Taten

Die Worte der Opfer-Anwältinnen nach der Verhandlung sind erschütternd: „Unsere Mandantinnen haben selbst nicht gewusst, dass sie Opfer von Straftaten geworden sind“, sagt Laura Leogrande. Ihre Mandantin (47) soll mindestens einmal vergewaltigt worden sein. Erinnerung? Keine. Die Frau war betäubt. Anwältin Magdalena Gebhard sagt: „Auch meine Mandantin hat keinerlei Erinnerungen an die Tat.“ Ihre Mandantin (29) soll dreimal vergewaltigt worden sein.

Anwältin Magdalena Gebhard vertritt eine der beiden Frauen.
Anwältin Magdalena Gebhard vertritt eine der beiden Frauen.Jens Blankennagel/Berliner Kurier

Es ist ein Ermittlungsskandal: Die Polizei hatte das Handy des Täters – aber sah sich die Aufnahmen lange nicht an. „Wir kritisieren, dass sein Handy monatelang von der Polizei nicht ausgewertet wurde“, sagt Gebhard. Angeblich gab es technische Probleme.

Als es dann doch passiert, erkennen Ermittler auf den Videos zwei Frauen, mit denen Marvin S. früher mal eine Beziehung hatte – einmal waren es drei Monate, bei der anderen Frau mehrere Jahre. Sie bekamen dann in diesem Jahr einen Anruf von der Polizei. „Unsere Mandantinnen wussten bis zu diesem Zeitpunkt nicht, dass sie zu Opfern geworden waren“, sagt Leogrande. Erst als die Polizei sie als mögliche Zeuginnen befragte, wurden sie mit dem Videomaterial konfrontiert. „Sie waren schockiert und traumatisiert.“

Die Anwältinnen kennen die Bilder aus dem ersten Verfahren und die aktuellen. „Ich würde sagen, die jetzt sind schlimmer“, sagt Magdalena Gebhard. Aber das sei schwer zu vergleichen. Die Sache ist noch dramatischer: „Es gibt noch weitere Videos, die nicht bestimmten Frauen zugeordnet werden konnten. Wir wissen nur, dass es weitere Ermittlungen gibt.“

Die erste Tat, für die Marvin S. verurteilt wurde, ereignete sich im April 2022. Rettungskräfte fanden eine junge Frau in seiner Wohnung: nackt, mit sexuellen Schmähungen beschmiert, sie hatte einen Herzstillstand. Sie wurde reanimiert, lag aber fünf Tage im Koma. Und die Polizei? Sie kam – machte aber nicht viel. Sie sah keinen Verdacht, sicherte keine Spuren, begann keine Ermittlungen. Erst die Familie des Opfers stellte Anzeige. Einen Monat später begannen Ermittlungen. Erst drei Jahre später fiel das Urteil – fünfeinhalb Jahre Haft. Marvin S. wird verurteilt, weil er die bewusstlose Schülerin vergewaltigte. Auch die 20-Jährige war betäubt. Auch diese Tat hat er gefilmt.

Neue Taten passierten schon vorher

Mit der aktuellen Anklage wird klar: Die vier neuen mutmaßlichen Taten sollen vor dem Fall im April 2022 passiert sein, für die er bereits im Gefängnis sitzt. Einmal geht es um eine Tat im Februar 2020 und dann um drei weitere Taten bei der anderen Frau im Zeitraum von März bis Juni 2021. Die Anwältinnen wollen, dass Marvin S. in Sicherheitsverwahrung kommt. Dann käme er auch nach der Haftstrafe nicht mehr frei – zum Schutz der Öffentlichkeit.

Der wohl schockierendste Aspekt des Falls: Ohne die Videos hätte niemand von den Verbrechen erfahren, auch die Opfer nicht. „Meine Mandantin findet die ganze Angelegenheit sehr belastend, es geht ihr sehr schlecht, auch wegen der medialen Aufmerksamkeit“, sagt Anwältin Gebhard. „Aber sie findet es gut, dass die Taten nun aufgeklärt werden.“ Bei diesem Fall sorgen nicht nur die Taten für Entsetzen, auch das Vorgehen der Polizei wirft viele Fragen auf. Bleibt die Hoffnung, dass die Journalisten wenigstens an jenen Prozesstagen zugelassen werden, an denen es nicht um intime Details geht, sondern um Ermittlungsfehler.