Gefangen in der Wohnung

Elf Etagen ohne Fahrstuhl: Wenn die Treppen zum Horror werden

Der KURIER besucht die Bewohner einer elfstöckigen Platte in Marzahn, in der seit fast zwei Monaten kein Fahrstuhl mehr fährt – obwohl viele gehbehindert sind.

Author - Sharone Treskow
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Birgit Kreysa (70) hat eine Gehbehinderung und gerade eine Rücken-OP hinter sich. Für sie ist das Treppensteigen „eine Qual“.
Birgit Kreysa (70) hat eine Gehbehinderung und gerade eine Rücken-OP hinter sich. Für sie ist das Treppensteigen „eine Qual“.Sabine Gudath

Stellen Sie sich vor, Sie sind aufgrund einer Gehbehinderung in Ihrem Haus auf einen Fahrstuhl angewiesen. Doch was ist, wenn er kaputtgeht und einfach nicht repariert wird? Sie kaum noch rausgehen können und an Ihre Wohnung gefesselt sind? Das machen gerade einige Bewohner eines elfstöckigen Hochhauses in Berlin-Marzahn durch. Seit knapp zwei Monaten herrscht hier ein Zustand, der leider keine Ausnahme ist.

Der KURIER berichtete diesen Monat bereits über einen ganz ähnlichen Fall in der Köthener Straße 4 in Marzahn: Hier sitzen viele in ihrer Bewegung eingeschränkte Menschen in ihren Wohnungen fest, weil der Aufzug seit Monaten nicht mehr fährt. Auf den Bericht hin hat sich Ines Krüger beim KURIER gemeldet, die nur wenige Kilometer entfernt wohnt und diese Verzweiflung teilt: In der Wörlitzer Straße 30 ist der Fahrstuhl ebenfalls kaputt. Schon seit dem 2. Oktober – knapp zwei Monate – müssen die Bewohner der elfstöckigen Platte ohne ihn auskommen. Dabei leben hier Menschen, die Gehbehinderungen haben, die im Rollstuhl sitzen. 

Die Mieter fühlen sich im Stich gelassen

Für meinen Besuch bei Frau Krüger muss ich mich in den elften Stock hochkämpfen, hochschleppen, besser gesagt. Hier wird mir so richtig bewusst, was elf Stockwerke bedeuten, wie anstrengend so ein Aufstieg schon mit zwei gesunden Beinen ist. Erst nachdem ich meine Puste wiedergefunden habe, können wir beginnen. Die 42-Jährige trägt einen Stützschuh, hat gerade eine Fuß-Operation hinter sich. „Tolles Timing, ne?“, sagt sie trocken. „Musste nach der OP und zum Fädenziehen mit den Krücken die Treppe runter, die Treppe hoch“, schildert sie weiter. 

In der Wörlitzer Straße 30 ist der Aufzug seit Wochen kaputt. Für Ines Krüger (42), die im elften Stock wohnt, ist die Situation nach einer Fuß-Operation eine Zumutung.
In der Wörlitzer Straße 30 ist der Aufzug seit Wochen kaputt. Für Ines Krüger (42), die im elften Stock wohnt, ist die Situation nach einer Fuß-Operation eine Zumutung.Sabine Gudath

Ganz klar: Frau Krüger ist durch den kaputten Fahrstuhl in ihrem Alltag eingeschränkt. Auch für ihren Partner, der Asthma hat, ist der Treppenaufstieg jedes Mal eine Qual. Aber was die Marzahnerin, die seit 17 Jahren hier wohnt, am meisten nervt: Der kaputte Aufzug ist kein Einzelfall. Frau Krüger hat alles notiert: „In den letzten drei Jahren ist es so massiv geworden mit den Ausfällen. Neun Wochen hatten wir auch mal im letzten Jahr, dann wieder drei Wochen, zwei Wochen ... der ist ein Drittel vom Jahr kaputt.“ Dieses Mal aber soll der Fahrstuhl „irreparabel kaputt“ sein und müsse ausgetauscht werden, wie die Bewohner selbst bei der Aufzugfirma Schindler erfragen mussten.

Denn von ihrer Hausverwaltung, der Degewo, erfahren die Mieter nichts. „Wir haben nie etwas Schriftliches bekommen, dass der Fahrstuhl wieder kaputt ist oder wann er wieder geht.“ Frau Krüger ist sauer: „Man hat halt als Mieter das Gefühl, dass man im Stich gelassen wird, dass denen das alles Wurst ist. Wir haben hier Leute im Haus, die im Rollstuhl sitzen. Die sind so traurig, das muss einem doch leidtun.“

„Das ist eine Qual mit den Treppen“

„Außer Betrieb“ – das zeigt der Fahrstuhl in der Wörlitzer Straße 30 jetzt schon seit knapp zwei Monaten an. Auch zuvor war das für die Bewohner bereits ein bekannter Anblick.
„Außer Betrieb“ – das zeigt der Fahrstuhl in der Wörlitzer Straße 30 jetzt schon seit knapp zwei Monaten an. Auch zuvor war das für die Bewohner bereits ein bekannter Anblick.Sabine Gudath

Ich gehe weiter zu Herrn Wurche, er wohnt direkt neben Frau Krüger in der elften Etage. Der ehemalige Bauarbeiter lebt infolge seiner Diabetes mit zwei amputierten Füßen, ist in seiner Wohnung auf einen Rollstuhl angewiesen. Wenn es sein muss, kann er mithilfe von Prothesen und Krücken auch ein paar Meter gehen. Aber so viele Stufen rauf und runter? Das bedeutet für ihn Schmerzen: „Das ist furchtbar für mich, das ist eine Qual mit den Treppen. Ich brauche über eine Stunde hoch und runter auf Krücken. Das kostet viel Zeit. Das ist wahnsinnig anstrengend. Und dann hab ich natürlich immer noch einen schweren Rucksack dabei. Ich schaffe es fast nicht, aber ich brauche Lebensmittel, ich brauche Medikamente, ich muss ab und zu zum Arzt gehen.“

Herr Wurche hat große Schwierigkeiten, sich zu versorgen: „Der Lieferservice kommt nicht mehr in den elften Stock. Da kann ich nicht mehr bestellen. ‚Tut uns leid‘, heißt es da nur. Ich habe zum Glück einen Nachbarn, der mir ab und zu hilft. Aber das sollte ja eigentlich nicht sein müssen!“ Doch das Schlimmste ist wohl: Er hat mit dem Fahrstuhl einen großen Teil seiner Selbstständigkeit, seiner Freiheit verloren: „Wenn der Fahrstuhl funktioniert, gehe ich gerne raus, klar. Aber aktuell überlege ich mir jedes Mal, ob ich wirklich runtermuss. Ich gehe fast gar nicht mehr raus.“

Frau Kreysa will nicht um alles betteln müssen

Birgit Kreysa (70) ist stinksauer und fühlt sich in ihrem Zuhause massiv eingeschränkt.
Birgit Kreysa (70) ist stinksauer und fühlt sich in ihrem Zuhause massiv eingeschränkt.Sabine Gudath

Ganz ähnlich geht es Birgit Kreysa im sechsten Stock, die mir unter sichtbaren Schmerzen die Tür öffnet: „Können wir uns bitte gleich hinsetzen?“ Die 70-Jährige musste schon vor knapp 30 Jahren in Rente gehen. „Ich habe eine Gehbehinderung. Ich habe taube Hände und ein taubes Bein“ – die Folge einer Bandscheiben-OP, bei der ein Nerv verletzt wurde. Gerade erst wurde sie am Rücken operiert, ihr wurde ein Tumor entfernt. Als sie nach der Reha nach Hause zurückkehrte, wartete ein kaputter Fahrstuhl auf sie. „Die mussten mir die Koffer hier hochtragen. Mich hier hochtragen. Wissen Sie, wie das ist, wenn man für alles betteln muss?

„Für mich ist es die Hölle, diese Treppen hochzulaufen. Es ist schlimm. Das ist eine Qual für alle Leute, die eine Behinderung haben oder die krank sind.“ Und davon gebe es einige in der Wörlitzer Straße 30. Inzwischen muss Frau Kreysa jedes Mal überlegen: „Gehst du heute runter? Gehst du nicht runter? Musst du unbedingt runter?“ Die 70-Jährige glaubt auch nicht, dass sich diese Situation bald ändern wird. Sie ist verzweifelt.

Obwohl sie dann deutlich in ihrem Leben eingeschränkt ist, zahlt Frau Kreysa bei jedem Fahrstuhlausfall die volle Miete. Denn um eine Mietminderung kann sie sich nicht selbst kümmern: „Ich habe das nie gemacht, weil ich mit der Hand solche Probleme habe und keinen Laptop hier habe, weil ich den sowieso nicht bedienen kann.“ Vonseiten der Verwaltung kam auch nichts: „Da wird nicht die Degewo kommen und sagen: Ach, da ist der Fahrstuhl wieder kaputt? Dann werden wir mal die Miete ermäßigen. Das interessiert die doch nicht.“

Die Degewo hat Verständnis für die Wut der Bewohner

In der Wörlitzer Straße 30 in Marzahn ist der Fahrstuhl seit Anfang Oktober kaputt. In den benachbarten Häusern im Block ist die Lage ähnlich.
In der Wörlitzer Straße 30 in Marzahn ist der Fahrstuhl seit Anfang Oktober kaputt. In den benachbarten Häusern im Block ist die Lage ähnlich.Sabine Gudath

Und was hat die Degewo, eines der größten Berliner Wohnungsbauunternehmen, zu der Lage in der Wörlitzer Straße 30 zu sagen? Auf KURIER-Anfrage hin erklärt ein Sprecher zum kaputten Fahrstuhl: „Die Türschwelle der Kabinentür war defekt, was auf Vandalismus hindeutet. Die für die Wartung zuständige Firma Schindler wurde umgehend beauftragt. Wir haben volles Verständnis für die Wut der Bewohner. Allerdings sind wir hier auch von den Ressourcen der die Reparatur ausführenden Firma abhängig und letztlich auch davon, dass Aufzüge pfleglich behandelt werden.“

Laut Degewo wird der Fahrstuhl jetzt repariert. Aber wird das dieses Mal länger helfen als nur für ein paar Wochen?
Laut Degewo wird der Fahrstuhl jetzt repariert. Aber wird das dieses Mal länger helfen als nur für ein paar Wochen?Sabine Gudath

Die guten Nachrichten: Laut der Degewo „enden die Reparaturarbeiten voraussichtlich kommende Woche“. Dabei handelt es sich wohl um eine Notfallmaßnahme, die hoffentlich länger als ein paar Wochen helfen wird – und das Problem nicht wie bisher nur herauszögert. Doch was ist, wenn der Fahrstuhl dann doch wieder ausfällt? „Sophia organisiert einen kostenlosen Tragedienst, auf Wunsch auch mehrmals am Tag“, erklärt der Degewo-Sprecher. Bei Sophia handelt es sich um einen Service, der freiwillig von der Verwaltung angeboten werde. Doch Herrn Wurche zufolge gibt es die Tragehilfe von Sophia nicht für den elften Stock. Für ihn sei das Angebot somit „keine Hilfe“. Abschließend hängt die ganze Hoffnung also doch am Aufzug. ■