Der weltbekannte französische Schriftsteller und Philosoph Albert Camus (1913–1960) war als Jugendlicher ein begabter Torwart beim Racing Club der Universität Algier. Vom späteren Literaturnobelpreisträger stammt das Bonmot: „Der Torhüter ist die letzte Bastion der Verteidigung. Auf ihm lastet eine Pflicht, die er in individueller Einsamkeit allein tragen muss.“
Der Volksmund beschreibt die Eigenheit des Keepers dagegen viel schlichter: „Torhüter und Linksaußen haben einen an der Klatsche, sind verrückt.“
Tjark Ernst nutzt bei Hertha BSC die Gunst der Stunde
Ob sich Tjark Ernst, der erst 20-jährige Stammtorhüter von Hertha BSC, schon einmal mit Camus’ Gedanken beschäftigt hat, weiß ich nicht, einen „an der Klatsche“ aber hat er garantiert nicht. Bislang war nur ein Herthaner jünger als Ernst, als er zur Nummer eins aufstieg: Christian Fiedler gelang das mit 19 Jahren in der Zweitliga-Saison 1994/95.
Ernst aber nutzte die Gunst der Stunde, als der Däne Oliver Christensen, Keeper in der Abstiegssaison, vor dem Wechsel nach Italien stand. Hinzu kam, dass die neue Vereinsspitze um Präsident Kay Bernstein und Sportdirektor Benjamin Weber verstärkt auf junge Talente setzt.
Hertha-Trainer Pal Dardai vertraut Tjark Ernst
Gemeinsam mit Chefcoach Pal Dardai und Torhütertrainer Andreas Menger riskierte es Weber, mit einem blutjungen Trio im Tor in die Zweitligasaison zu gehen: Ernst, dazu Robert Kwasigroch (19) und Tim Goller (18). „Das war ein bewusster Schritt“, sagte mir Benjamin Weber, „dazu sollte mit Marius Gersbeck ein erfahrener Mann kommen.“ Gersbeck (28) bekam nach seiner Prügel-Affäre eine zweite Chance, musste sich aber in der Hierarchie hinter Ernst einordnen. Sportchef Weber lobt: „Tjark besitzt eine gute Ausstrahlung, ist wissbegierig, mutig und selbstbewusst.“

Als Beobachter hatte ich arge Zweifel, dass ein solch junger Keeper einen starken Rückhalt in der oft raubeinigen Zweiten Liga bilden könnte. Ich war es viele Jahre gewohnt, dass Hertha auf gestandene Torhüter wie Gabor Kiraly, Christian Fiedler, Jaroslav Drobny, Thomas Kraft oder Rune Jarstein setzte. Inzwischen aber bin ich beeindruckt von der Ruhe und Klasse von Ernst.
Junge Torhüter haben es bei Hertha BSC schwer
Junge Keeper bekommen oft nur ein, zwei Chancen, sich bei den Profis zu bewähren. Ein böser Fehlgriff kann Karrieren weit zurückwerfen. Ich erlebte einst zahlreiche Jungprofis, die es bei Hertha nicht zur Nummer eins geschafft haben. Krass traf es im Oktober 2009 den damals 19-jährigen Sascha Burchert. Drobny war krank, Ersatz Timo Ochs verletzte sich beim 1:3 gegen den Hamburger SV nach einer halben Stunde, Burchert sprang ein. Zweimal klärte er spektakulär per Kopf an der Strafraumgrenze, beide Male flogen die Bälle wie Bumerangs zurück und schlugen im Tor ein. Burchert bekam vom Boulevard das Etikett „Torwarttrottel“ verpasst und hatte lange damit zu kämpfen.
Auch junge Keeper wie Dennis Smarsch (2018 mit Hertha Deutscher Meister der A-Jugend), Nils Körber, Christopher Gäng oder Nico Pellatz wurden in Berlin keine Nummer eins. Hertha-Legende Nello di Martino, der unter 25 Cheftrainern die Torhüter anleitete, sagt: „Das absolut größte Talent war der Pole Tomasz Kuszczak. Der kam mit 18 im Jahr 2000 zu Hertha.“ Unglaublich, aber wahr: Binnen vier Jahren erhielt er von verschiedenen Profi-Trainern keine Chance. Er stand lediglich bei Hertha II in der Oberliga Nord im Tor – und später sogar bei Manchester United in der Premier League im Kasten!
Zurück zum Volksmund und zu den „verrückten“ Keepern. Mit dem Ungarn Gabor Kiraly gab es solch einen Typen. Mit 198 Erstligaspielen für Hertha ist er der Rekord-Keeper. Der Mann mit der langen grauen Schlabberhose wollte einst das Spiel mit einem Abwurf an die eigene Torlatte eröffnen und den Ball so hart an die Querlatte schleudern, dass es wie ein „normaler“ Abwurf gewesen wäre. Im Training klappte das 99-mal in 100 Versuchen. Die Trainer aber verboten es ihm. Schade eigentlich.