Es war eines dieser Spiele, an die sich später niemand mehr erinnerte. Es geht um die 0:1-Niederlage von Hertha bei Hannover 96 am 23. September 1995 in der Zweiten Bundesliga. Hertha dümpelte im unteren Mittelfeld herum und geriet am Schluss noch in akute Abstiegsgefahr. Dennoch bot auch das Spiel in Hannover bei genauerem Hinschauen einen ganz besonderen Fakt, der bis heute – rund 28 Jahre später – Bestand hat.
Trainer Karsten Heine, damals 40 Jahre alt, schickte die jüngste Berliner Startelf aller Zeiten auf den Rasen: 22,9 Jahre im Schnitt! Christian Fiedler (20), Carsten Ramelow (21), Michael Hartmann (21), Christian Fährmann (19) und Marcel Rath (20) standen als Youngster im Team. Die drei „Oldies“ mit jeweils erst 25 Jahren hießen Steffen Karl, Sixten Veit und Sven Meyer.
Heine (68) konnte damals auf einige der besten Hertha-Bubis zurückgreifen, die im Juni 1993 sensationell ins DFB-Pokalfinale eingezogen waren und dort Bayer Leverkusen 0:1 unterlagen. „Ich hatte seinerzeit eine ordentliche Truppe mit jungen Leuten beisammen. Nur die Verantwortlichen besaßen keine Geduld, auf die Jugend zu setzen“, sagte mir Karsten Heine nun.
Vor 20 Jahren hatte Hertha nicht die Geduld, auf die Jugend zu setzen
1995 war der Begriff „Berliner Weg“, der heute Herthas Bild bestimmt, noch ein Fremdwort. Dieser Weg bedeutet nichts weiter, als verstärkt auf die eigenen, in der Akademie ausgebildeten Spieler zu setzen und auch die Klubführung mit Personen, die die „Hertha-DNA“ in sich tragen, zu besetzen. Letzteres geschah im Februar 2023 sehr schnell mit Benjamin Weber als Sportdirektor und Andreas „Zecke“ Neuendorf als Direktor Akademie- und Lizenzspielerbereich.
Der verstorbene Präsident Kay Bernstein rief den „Berliner Weg“ am 29. Januar 2023 mit Nachdruck aus – nach der Entlassung von Sportchef Fredi Bobic und verkündete einen „strategischen Kurswechsel“. Natürlich war das Bauen auf die eigenen Talente auch den heftigen finanziellen Zwängen geschuldet und gilt weiter als unabdingbar.
Nach einem Jahr kann man in einer Zwischenbilanz von einem gelungenen Kurs sprechen, den Cheftrainer Pal Dardai mit Leidenschaft verfolgt. Bereits am ersten Spieltag der Zweiten Liga, Ende Juli vorigen Jahres, schickte Dardai beim 0:1 in Düsseldorf im Laufe des Duells gleich sechs Jungprofis auf den Rasen: Pascal Klemens, Marten Winkler, Derry Scherhant und – eine Novum – alle seine drei Söhne Marton, Palko und Bence. Von vier bis zu sechs Talenten kamen bislang pro Spiel zum Zuge. Im Vergleich zur Abstiegssaison 2022/23 hat sich die Anzahl der eingesetzten Eigengewächse verdoppelt und derjenigen, die in der Startelf standen, sogar verdreifacht.
Der „Berliner Weg“ ermöglicht den Jungs aus der Akademie den schnellen Zugang zur ersten Mannschaft. Sie müssen ihr Glück nicht woanders suchen. Einige haben das natürlich getan, was auch im Profigeschäft normal ist. Jessic Ngankam, Arne Maier, Luca Netz, Lukas Ullrich oder Lazar Samardzic gehören in diese Kategorie.

„Man muss nicht in Hertha-Bettwäsche geschlafen haben, um hier zu arbeiten oder zu spielen“
Von Kay Bernstein stammt der Satz: „Man muss nicht in Hertha-Bettwäsche geschlafen haben, um hier zu arbeiten oder zu spielen.“ Soll heißen: Neben eigenen Talenten muss die Mannschaft auch mit externen Zugängen verstärkt werden. Auch das ist gelungen und das Team hat trotz zahlreicher Widrigkeiten mit viel Leidenschaft die Fans hinter sich gebracht. Entscheidend ist, dass es in der Mannschaft und auch im „Team hinter dem Team“ eine gute Mischung gibt aus „Ur-Herthanern“ und Protagonisten von außen wie etwa Fabian Reese und Haris Tabakovic.
Noch ist vieles möglich in dieser Spielzeit, in der die Jugend oft vorangeht. Beim jüngsten 3:2-Sieg gegen den 1. FC Magdeburg waren die eingesetzten Spieler im Schnitt 23,3 Jahre alt und näherten sich dem speziellen Startelf-Rekord unter Trainer Karsten Heine aus dem Jahr 1995. „Dieser Weg“, sagte mir Heine, „ist in der jetzigen Situation der absolut richtige.“ Und zudem alternativlos. ■