Die Zeit zwischen den Jahren ist immer Anlass, ein wenig Bilanz zu ziehen, Zwischenzeugnisse auszustellen, auch symbolisch Titel zu vergeben, etwa den „Herthaner der Hinrunde“ zu küren. Vor einem Jahr fiel mir das leicht. Zwar stand das Team mit 25 Punkten nur auf Rang 7, aber besaß mit dem Mentalitätsmonster Fabian Reese und Top-Torjäger Haris Tabakovic zwei Profis der Extraklasse und damit gleich zwei Kandidaten für meine Wahl. Für mich war Reese die Nummer eins. Bis zum Jahreswechsel hatte er schon vier Tore und neun Assists auf dem Konto und im erst per Elfmeterschießen gewonnenen, unvergessenen Pokal-Drama gegen den Hamburger SV „das Spiel seines Lebens“ abgeliefert.
Nun, genau ein Jahr später, kommt die Mannschaft lediglich auf 22 Punkte und klebt auf Platz 12 fest. Kann man nach den oft eher durchwachsenen Auftritten überhaupt einen „Herthaner der Hinrunde“ küren?
Man kann. Es stellt sich die Frage, welche Eigenschaften sollte solch ein Profi besitzen? Musste er Tore wie am Fließband schießen oder sich als genialer Tor-Vorbereiter präsentieren? Oder zeigte er sich besonders kreativ und glänzte mit genialen Einfällen? Sollte er ein aufopferungsvoller Kämpfer sein oder auch ein eisenharter Verteidiger, der den gegnerischen Angreifern den Schneid abkaufte?
Für mich gab es mehrere Kandidaten. Natürlich Ibrahim Maza (19), der Herthas Spiel mit seiner glänzenden Technik, seinem Spielwitz und seiner jugendlichen Unbekümmertheit maßgeblich prägte und sogar zu seinem Länderspieldebüt für Algerien, der Heimat seines Vaters, kam. Er steigerte seinen Marktwert auf sensationelle 12 Millionen Euro und rangiert in dieser Kategorie sogar in der gesamten Zweiten Liga ganz vorn.
Eigentlich Zeefuik, aber dann dieser dumme Kopfstoß
Auch über die holländische Kampfmaschine Deyovaisio Zeefuik (26) habe ich nachgedacht. Der Allrounder ging in jedem Spiel an seine körperlichen Grenzen und tat sich als emotionaler Anführer hervor. Laut Trainer Cristian Fiel geht er in jedem Training voran und ist so zu einem Vorbild geworden. Sein blödsinniger Ausraster im DFB-Pokalspiel beim 1. FC Köln, der ihm nach einem Kopfstoß gegen einen Kölner einen frühen Platzverweis einbrachte und sein Team arg schwächte, ließ ihn postwendend aus dem Kandidatenkreis fallen.
Auch Derry Scherhant (22) und Florian Niederlechner (34/beide mit je 5 Toren und einem Assist erfolgreich) waren auffällig und versuchten den Abgang von 22-Tore-Stürmer Haris Tabakovic nach Hoffenheim zu kompensieren.
Für mich aber ist weder ein Stürmer, noch ein Mittelfeldspieler, die bei solchen „Wahlen“ meist im Mittelpunkt stehen, sondern ein Abwehrmann mein „Herthaner der Hinrunde“: der rechte Verteidiger Jonjoe Kenny!
Jonjoe Kenny ist der konstanteste Spieler
Der 27-Jährige Engländer, geboren in Liverpool und beim Premier-League-Klub FC Everton ausgebildet, ist der einzige Hertha-Profi, der in sämtlichen Spielen von der ersten bis zur letzten Minute auf dem Platz stand. Exakt in 17 Liga-Duellen und drei DFB-Pokal-Spielen.

Die Zahlen sind beeindruckend: 1.830 Minuten verteidigte Kenny mit Hingabe auf der rechten Abwehrseite, schoss ein Tor und gab starke sechs Vorlagen, kam so auf 26 Prozent der Berliner Torbeteiligungen. Er rannte insgesamt 177,25 Kilometer, im Schnitt 10,43 Km pro Spiel – Platz zwei hinter Mittelfeldmann Michael Cuisance.
Der ehrgeizige Mann von der Insel, 2017 sogar U20-Weltmeister mit England, war bislang die größte Konstante im oft fragilen Hertha-Team. Für mich ist Kenny ein Profi wie er im Buche steht: Hart, kampf- und willensstark, ein mutiger Antreiber auf dem Platz und verbal auch in der Kabine, wo sein Wort Gewicht hat.
Gerade auf seiner Position als rechter Verteidiger hatte er zahlreiche prominente Vorgänger, die sich durch enorme Vereinstreue auszeichneten: Michael Sziedat, Hendrik Herzog, Arne Friedrich oder Peter Pekarik. Ich fände es großartig, wenn sich auch Kenny in diesen Zirkel einreihen würde. Aber nun vor dem Jahreswechsel erst einmal: „Thank you, Jonjoe!“ ■