Ein weißes Laken liegt ausgebreitet auf dem alten Holzdielenboden einer Bar in Neukölln, umgeben von Holzstühlen und wackeligen Tischen. Das Licht ist gedimmt. Draußen regnet es. Menschen schneiden Papier zurecht, testen ihre Stifte, arrangieren ihre Farben und bestellen noch ein Bier. Jede Woche treffen sich hier Künstler aus Berlin zum Aktzeichnen – und in der Mitte das Aktmodell: heute, die 23-jährige Sängerin und Künstlerin Rayne.
Rayne, wie sie sich als Künstlerin nennt, ist professionelles Aktmodell und Musikerin. „Ich wollte Malerin werden und habe den Weg zur Kunst immer als sehr befreiend empfunden.“
Geboren in Hongkong und aufgewachsen in Saudi-Arabien, erlebte Rayne unterschiedliche kulturelle Einstellungen zum Körper. „In Saudi-Arabien durften Frauen nicht alleine auf die Straße gehen.“ Dann der Umzug nach Berlin – und damit auch große Kontraste.
„Es ist meditativ, einfach nur da zu sein“ – Rayne über ihre Arbeit als Aktmodell
Später, in Deutschland, hat sie dann FKK kennengelernt – „das fand ich faszinierend, weil der nackte Körper hier oft als etwas Normales gesehen wird“.
Sie macht eine Pause, überlegt und erzählt dann weiter: „In der Gesellschaft wird der Körper oft auf Sexualität reduziert. Pornos, Nacktheit, … aber hier beim Aktmalen geht es um was anderes.“ Für sie war der Beruf auch eine Befreiung: „Es geht darum, den Körper in seiner Natürlichkeit zu zeigen, ohne ihn zu sexualisieren.“

Der Weg zum Aktmodell begann für Rayne vor ein paar Jahren. „Ich wollte wissen, wie es sich anfühlt, da in der Mitte zu sein – wo es nur um Kunst geht“, erinnert sie sich. Ihre erste Session war ein schönes Erlebnis. „Die Leute haben mir gar nicht das Gefühl gegeben, dass irgendetwas unangenehm ist. Es war ein sicherer Raum.“ Seitdem ist sie mehrmals in der Woche als Aktmodell in Berlin tätig. „Der nackte Körper ist einfach natürlich. Er sollte nicht tabuisiert sein.“
Woran denkst du, wenn du da sitzt und die Leute dich malen? „Manchmal denke ich an meine Uni-Aufgaben, an Sachen, die ich erlebt habe, Dinge, die ich erledigen muss, und manchmal denke ich an gar nichts.“ Rayne erzählt auch, dass sie noch nie erlebt hat, dass Teilnehmende die Situation des Aktzeichnens missverstanden haben.

Auch vor Ort: Julie Savery (26), sie macht diese Aktzeichen-Abende seit geraumer Zeit wöchentlich möglich. Als ursprüngliche Tänzerin kam die Dänin 2016 nach Berlin. „Das hat sich irgendwie zufällig ergeben“, sagt sie. „Meine ehemalige Mitbewohnerin war Kunststudentin und organisierte Aktzeichnen an ihrer Uni.“ Damals war sie das Modell. „Irgendwann haben wir eine bereits bestehende Session in der Bar übernommen“, und so wurde sie zur Organisatorin, zusammen mit Björn Heerssen und Anika Krbetschek.
Julie betont, dass diese Abende keine klassischen Kunstkurse sind. „Es gibt keinen Unterricht. Es ist ein freier Raum, in dem jeder seine Fähigkeiten üben kann. Wir bitten nur um Spenden, um die Modelle und das Material zu finanzieren.“ Der Abend sei kein Geschäft, sondern eine Möglichkeit, die Kunst lebendig zu halten. „Viele der Künstler kommen wöchentlich, um zu üben.“
Rayne hat sich ein wenig zurückgezogen. Sie sitzt ruhig in der Mitte des Raums, wärmt sich die Hände an einem kleinen Heizgerät.

Als es losgeht, verändert sich die Atmosphäre in der Bar. Es wird still, „natürlich darf man keine Fotos machen,“ klärt Julie die in etwa 20 Künstler auf. Sie gibt einen kleinen Überblick für den Ablauf des Abends. Rayne, die sich zuvor durch Stretchübungen aufgewärmt hat, entkleidet sich und nimmt die erste Pose ein.
Für die ersten Skizzen bleibt jeweils nur eine halbe Minute Zeit. Es geht darum, schnell Proportionen zu erkennen. Licht,- und Schattenwürfe wahrzunehmen. Wie balanciert sich der Körper? Der Raum ist erfüllt von einem leisen Kratzen und Kritzeln, das nur durch das Klingeln des Weckers unterbrochen wird. Dann das Rascheln von den 20 Skizzenblöcken, innerhalb von wenigen Sekunden sind alle bereit für eine neue Position. Nach und nach werden die Zeitetappen länger, die Zeichnungen detaillierter und die Gesichter vertiefter.

Man hört klirrende Gläser und das Murmeln von Gesprächen, der ganz normale Bar-Alltag geht nebenan einfach weiter. Wenn jemand die Toilette aufsucht, gehen die Barbesucher durch den Zeichenraum, die Tür steht offen, stören tut es niemanden.
Aktzeichnen in Neukölln: Die Arbeit eines Aktmodells
Einige Künstler konzentrieren sich auf Raynes Gesicht und fertigen präzise Porträts an. Andere widmen sich den Kurven ihres Körpers, spielen mit Linien, Schatten und Licht. Manche Skizzen bleiben grob und dynamisch, andere werden nahezu fotorealistisch.

Nach einer dreiviertel Stunde ist dann Pause. Rayne zieht sich an, und geht eine rauchen. „Manche Posen sind körperlich anstrengend, vor allem, wenn sie länger gehalten werden müssen“, erzählt Rayne. Manchmal sitzt sie bis zu 30 Minuten in der gleichen Haltung, ohne sich zu rühren. „Auch versuche ich darauf zu achten, dass Körperteile nicht einschlafen, man will sich ja nicht bewegen.“ Eine Uhr, wo sie die Zeit im Blick behalten kann, gibt es nicht. „Ich höre manchmal bei der Musik, die läuft, wie viel Zeit wohl vergangen ist“, erzählt sie.
Auch die Unsicherheiten des Berufs sind ein Thema. „Es ist schwer, als Aktmodell eine feste Stelle zu haben. Es gibt viele Modelle in Berlin, und man muss sich ein Netzwerk aufbauen, um regelmäßig Aufträge zu bekommen.“ Würde es für sie möglich sein, würde sie gerne noch öfters Aufträge bekommen, momentan verdient sie sich einfach ein wenig zum Studium dazu.
Neben ihrer Tätigkeit als Aktmodell widmet sich Rayne vor allem ihrer Musik. Letztes Jahr veröffentlichte sie ihr Debütalbum, ein Gemeinschaftsprojekt mit über 20 Mitwirkenden. „Es war eine unglaubliche Erfahrung, mit so vielen talentierten Menschen zu arbeiten“, erzählt sie. Das Album finden Sie unter Rayne auf Spotify hier.
Rayne betont, wie wichtig es sei, dass solche Räume, wie diese kleine Bar in Neukölln, existieren, denn genau solche Orte stehen unter Druck. „Es ist traurig, dass kulturelle Projekte oft die ersten sind, bei denen gekürzt wird“, sagt Rayne. Die Künstler schneiden sich mehr Papier zurecht, holen sich mehr Kreide, spitzen den Bleistift an. Hinter der Bar wird Popcorn gepoppt.

Wir fragen ein paar der Künstler, wie es ist, auf diese Art Zeichnen zu üben: „Es ist intensiv, sehr anstrengend. Man ist so fokussiert, man wird richtig müde“, erzählt einer der Künstler. Er zeigt ein paar seiner Skizzen, man erkennt Raynes Gesichtsausdruck, entspannt, mit dem Blick auf einen Punkt im Raum gerichtet. Dann geht es weiter mit dem Zeichnen. Mit einer natürlichen Haltung und geraden Rücken setzt Rayne sich auf einen Barstuhl, im Zentrum der künstlerischen Aufmerksamkeit.
Das Kerzenlicht auf den Tischen flackert, wenn die Tür der Bar im Nebenraum aufgeht. Für eine weitere Haltung legt sich Rayne auf dem Boden, den Kopf auf den ausgestreckten Arm. So kann sie lange liegen, ohne dass es unbequem wird.