Eine Ratte läuft, aufgeschreckt durch Aufräumarbeiten der Stadtreinigung. In großen Städten fühlen sich Ratten wohl, vor allem an Flüssen und Kanälen. 
Eine Ratte läuft, aufgeschreckt durch Aufräumarbeiten der Stadtreinigung. In großen Städten fühlen sich Ratten wohl, vor allem an Flüssen und Kanälen.  Bernd von Jutrczenka/dpa

Beinahe gerät Mario Heising am Rande der Berliner Karl-Marx-Allee ins Straucheln. Zahlreiche Löcher in der Erde sind im fast kniehohen Gras kaum zu sehen. Bis man versehentlich hineintritt. In das Werk von Ratten. Für den Fachmann Heising ist der Befall eindeutig: Spuren im Erdreich, Nagespuren an ausgelegten Ködern, dazu recht frischer Rattenkot. Die angepeilten „100 Prozent Tilgung“ hat der Schädlingsbekämpfungs-Meister vor Ort noch nicht erreicht. „Hier komme ich bestimmt noch drei, vier Mal hin“, sagt er.

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Ratten in der Stadt haben ein mieses Image. Schädlinge sind das, die vernichtet werden müssen. Unser erster Impuls, wenn es um Ratten geht, ist oft angst- und ekelbesetzt.

Menschen führen gegen die städtischen Mitbewohner seit Jahrhunderten einen „Krieg“, der sich auf globaler Ebene immer wieder als sinnlos erweist. Hundert Prozent Tilgung ist eine Illusion.

Ratten waren schon zu Beginn der Zivilisation ständige Begleiter der Menschen. 
Ratten waren schon zu Beginn der Zivilisation ständige Begleiter der Menschen.  Alex Hannam/Imago 

Ein neuer Dokumentationsfilm über Ratten als unsere Nachbarn zeichnet ein freundlicheres Bild unserer Mitbewohner. Die Doku „Stadtratten – unbekannte Parallelwelt“ erzählt von fünf internationalen Forschungsprojekten, eines davon in Berlin, zur Mensch-Ratte-Beziehung.

Denn was wir bisher über Ratten wissen, wie sie seit Anbeginn der Zivilisation mit uns leben, ist erstaunlich dürftig. Im Grunde wissen wir weniger über Ratten als über Eisbären und Blauwale, berichtet eine der Forscherinnen in der Doku von Maria Wischnewski.

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Wenn man ein Gespür dafür bekommen will, wie groß Berlins Rattenpopulation ist, sucht man oft nach Zahlen. Seriös schätzen, wie viele der Tiere es hier gibt, kann aber niemand. Die Mär hält sich hartnäckig; es müsse mindestens so viele Ratten geben, wie Menschen in der Stadt sind.

Zumindest etwas Orientierung bieten Daten des Landesamtes für Gesundheit und Soziales (Lageso) in Berlin: Dorthin melden die Bezirke nach einem merklichen, auch pandemiebedingten Rückgang im Jahr 2020 nun wieder steigende Zahlen abgeschlossener Rattenbekämpfungen.

Wie viele Ratten gibt es in Berlin? 

2022 wurden rund 8140 Maßnahmen zu Rattenbekämpfung erfasst, in diesem Jahr bisher rund 1600. Vor der Pandemie waren es zwei Jahre lang je mehr als 10.000. Dies ist aber nur ein Ausschnitt des Geschehens, weil nicht jeder Fall gemeldet wird. Mario Heising schätzt, dass es eher 45.000 Einsätze pro Jahr in der Stadt sind.

Dabei sagt die Zahl der Einsätze gegen Ratten wenig über ihre Anzahl aus.

Ratten leben mit uns, Bekämpfung hin oder her. Die Bedingungen, die unser Leben ihnen bietet, sind ideal für die Anpassungskünstler: die Kanalisation zum Wandern, die vielen herumliegenden Abfälle, teils ungepflegte Grünanlagen. Wenn die Müllabfuhr streike und die Tonnen nicht leere, mache sich das auch bemerkbar. Hinzu kämen Vogelliebhaber, die Unmengen Brot auslegten, was schon zu massiven Rattenplagen geführt habe, so der Rattenbekämpfer Heising. Noch nicht lange her, da wurde ein Spielplatz am Olivaer Platz wegen Ratten gesperrt. Gut möglich, dass ihnen Kekse und Co. zu einfach präsentiert wurden. 

Müll in einem Berliner Park. Essensreste locken Ratten an. 
Müll in einem Berliner Park. Essensreste locken Ratten an.  Frank Sorge/Imago

Man müsse stetig einen Deckel auf der Verbreitung von Ratten halten, heißt es häufig. Sonst wüchsen sie sich zu einer wahren Plage aus. 

Forscher interessieren sich für Ratten 

Doch stimmt das überhaupt? In Berlin, Paris, Vancouver und Helsinki werden derzeit Rattenpopulationen untersucht. Die Art, die am häufigsten vorkommt, ist die Wanderratte, Rattus Norvegicus. In verschiedenen Projekten will man wissen, wie leben Ratten? Wie hoch ist das Risiko, dass Ratten Krankheiten auf Menschen übertragen wirklich?

Können Ratten Krankheiten übertragen?

Aus Vancouver gibt es dazu erste spannende Erkenntnisse. Ratten bewegen sich in abgegrenzten Revieren. Die einzelnen Rattenfamilien haben kaum Kontakt zu anderen Familien und können so folglich auch keine Krankheiten untereinander übertragen. Das hat zur Folge, dass es Populationen gibt, die eine hohe Last an Erregern haben, andere wiederum sind frei von ihnen. Also nicht jede Ratte ist gleich gut Überträger von Krankheiten.

Auch haben Versuche gezeigt, dass nach einer simulierten Rattenbekämpfungsmaßnahme mehr verbliebene Ratten mehr Erreger in sich trugen. Revierkämpfe, Stress und ein anderes soziales Verhalten nach der Dezimierung hatten zur Folge, dass es mehr infizierte Ratten gab. Sind präventive Dezimierungsaktionen, wie sie noch immer praktiziert werden,  also immer sinnvoll oder bewirken sie sogar das Gegenteil des Gewünschten?

Ratten polarisieren. Die einen verdammen sie, die anderen fordern einen umweltverträglicheren Umgang mit ihnen. 
Ratten polarisieren. Die einen verdammen sie, die anderen fordern einen umweltverträglicheren Umgang mit ihnen.  Gerd Engelsmann

Die Bekämpfung von Ratten hat weitere negative Folgen: In Berlin forscht Dr. Annika Schlötelburg dazu, wie man etwa den Einsatz von sehr umweltschädlichem Rattengift besser managen kann.

In Vancouver etwa rückt man bereits von der Bekämpfung mit Rodentiziden ab. Denn die Stoffe, die eine Blutgerinnung hemmen, lagern sich auch in anderen Wildtieren ab. Untersuchungen dazu sind erschreckend. Die Antikoagulanzien, Gerinnungshemmer, sind sogar im Abwasser nachweisbar. Einige Ratten entwickelten bereits Resistenzen.

Was wir über Ratten wissen 

Ratten sind ein Teil des städtischen Ökosystems. Mehr über sie zu wissen, kann dazu beitragen, einen entspannteren Umgang mit ihnen zu finden: Ratten sind sozial, vor die Wahl gestellt, einem Artgenossen in Not zu helfen oder Schokolade zu fressen, entscheiden sie sich für die Hilfeleistung. Gebrechlichen Familienmitgliedern bringen sie Futter ins Nest. Ihr Geruchssinn ist so ausgeprägt, dass sie als Minensucher eingesetzt werden. Nicht zuletzt haben wir Menschen unzählige medizinische Fortschritte Millionen von Labor-Ratten zu verdanken. In Asien stehen Ratten für Weisheit und Reichtum, nur in der westlichen Welt ist ihr Ruf so schrecklich ruiniert.

Auf der Wiese neben der Karl-Marx-Allee warnt an einem Metallzaun ein Schild vor einer Köder-Falle für die Rattenbekämpfung.  
Auf der Wiese neben der Karl-Marx-Allee warnt an einem Metallzaun ein Schild vor einer Köder-Falle für die Rattenbekämpfung.   Soeren Stache/dpa

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Denn Gefahr geht von Ratten vor allem für die Schwächsten in unserer Gesellschaft aus: Obdachlose, die auf der Straße leben. Hier müsste die Politik ansetzen und würdige Lebensbedingungen für alle Menschen möglich machen. Ein umweltverträgliches Rattenmanagement, bessere Müllentsorgung und die Erkenntnis, dass auch Ratten normale Tiere und natürlicher Teil des Ökosystems in der Stadt sind, können helfen, den Krieg gegen die Nager zu beenden, der jede Menge Kollateralschäden verursacht, glauben die Forscher.

Wo Menschen sind, sind Ratten. An dieser Tatsache lässt sich nicht rütteln. Wie unser Zusammenleben aussehen soll, darüber entscheiden wir.