Stiller Protest

Hundert Leichensäcke für die Ministerin: „Staatsversagen!“

Deshalb demonstrieren Angehörige von Kindern mit Post Covid und ME/CFS in Berlin-Mitte.

Author - Berliner KURIER
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Ein Kind hält sich die Ohren zu: Menschen mit ME/CFS sind oft geräuschempfindlich.
Ein Kind hält sich die Ohren zu: Menschen mit ME/CFS sind oft geräuschempfindlich.Hodei Unzueta/imago

Sie kommen mit Leichensäcken im Gepäck – 100 an der Zahl. Vor dem Bundesforschungsministerium in Berlin-Mitte sollen sie an einem Bauzaun aufgehängt werden. Daneben: Fotos von Menschen, die Post Covid und ME/CFS haben. Auf Transparenten steht: „Staatsversagen“ und „1,5 Millionen Erkrankte, 63 Milliarden Euro Schaden, null Medikamente.“

Die Aktion soll am Mittwoch um 11 Uhr vor dem Bundesministerium für Forschung starten. Der stille Protest richtet sich an Ministerin Dorothee Bär (CSU), sagt Johanna Sasse, die die Demo angemeldet hat. Sie sagt: „Die Leichensäcke stehen für die Schwerstbetroffenen.“ Die würden sich wie lebendig begraben fühlen.

Stiftung macht bundesweit auf das Leid junger Patienten aufmerksam

Sasse ist Teil der Bewegung „#mein-kind-kann-nicht-mehr“, die bundesweit auf das Leid vor allem von jungen ME/CFS-Patienten aufmerksam macht – rund 650.000 Betroffene in Deutschland, darunter bis zu 140.000 Kinder und Jugendliche. Für viele von ihnen ist das Leben kaum mehr lebenswert.

Seit die Pandemie im April 2023 offiziell für beendet erklärt wurde, ist Corona aus dem Fokus der Öffentlichkeit verschwunden. Doch für Zehntausende bestimmt das Virus weiterhin den Alltag. Post Covid und ME/CFS haben ihnen Kraft, Hoffnung und Zukunft geraubt. Sie verlangen nach Forschung, nach Medikamenten – nach einer Chance auf Heilung.

Forscher haben zwar Wirkstoffe ausfindig gemacht, die hoffen lassen. Doch die Studien stocken, weil Geld fehlt. „Lediglich 15 Millionen Euro für ein Jahr sind für Grundlagen- und Arzneimittelforschung vorgesehen“, kritisiert Sasse. Sie bräuchten sehr viel mehr. Johanna Sasse ist als Mutter schwer erkrankter Kinder selbst betroffen. Die Familie lebt in einem Dorf nahe Flensburg. Der neunjährige Sohn ist ans Bett gefesselt. Die sechsjährige Tochter kann nicht eingeschult werden.

Die Katastrophe begann Ende 2023 mit harmlosen Infekten. Erst wurde der Sohn krank – Schmerzen, Erschöpfung, Konzentrationsprobleme. Kein Arzt erkannte das Muster. Eine Nachbarin brachte Sasse schließlich auf die richtige Spur: ME/CFS. In einer Post-Covid-Ambulanz in Wesel kam dann die Gewissheit. Die Symptome waren eindeutig: Belastungsintoleranz, hoher Puls. Auch eine Small-Fiber-Neuropathie ist typische Anzeichen der Krankheit, feine Nervenenden verursachen Schmerzen. Viele Patienten vertragen kein Licht und keine Geräusche.

Mit einem Avatar im Klassenzimmer

Der Sohn von Johanna Sasse verfolgt den Unterricht nur noch per Avatar aus dem Bett – oft zu schwach, um mehr als ein paar Minuten zuzusehen. „Bildung ist nicht möglich“, sagt Sasse. Ihre Angst: bleibende organische Schäden. Einige Medikamente aus anderen Therapiebereichen können Symptome etwas lindern – heilen aber nicht. Neue Wirkstoffe sind in Sicht, doch die Gelder für Studien fehlen. Anträge auf staatliche Förderung werden abgelehnt.

„Staatsversagen“, wiederholt Johanna Sasse – das Wort, das Ex-Minister Karl Lauterbach (SPD) selbst im Zusammenhang mit Post Covid benutzt hatte. Die Initiatoren der Demo hoffen, dass Ministerin Bär oder ihre Staatssekretärin endlich mit ihnen sprechen. „Ich versuche seit Wochen, einen Termin bei ihrer Staatssekretärin zu bekommen“, sagt Johanna Sasse. Vergeblich. Anderen Patientenorganisationen haben ihr ähnliches berichtet.