Berliner Feuerwehr

112-Revolution: Wer wirklich Hilfe braucht, soll sie schneller bekommen

Neues Vorrangsystem – wer Bauchschmerzen hat oder eine verstauchte Hand, muss in Zukunft länger auf die Retter der Berliner Feuerwehr warten.

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Künftig sollen Patienten, die nicht in akuter Lebensgefahr sind, länger auf die Retter der Berliner Feuerwehr warten müssen.
Künftig sollen Patienten, die nicht in akuter Lebensgefahr sind, länger auf die Retter der Berliner Feuerwehr warten müssen.Seeliger/imago

Die Berliner Feuerwehr geht neue Wege, um ihren überlasteten Rettungsdienst zu entlasten. Künftig sollen Patienten mit lebensbedrohlichen Notfällen wie Herzinfarkten oder Schlaganfällen schneller versorgt werden – während diejenigen, die mit kleineren Verletzungen wie verstauchten Knöcheln die 112 wählen, länger warten müssen. Denn bislang waren hoch qualifizierte Notfallsanitäter und sogar Notärzte oft mit Bagatellen beschäftigt – wertvolle Zeit, die an anderer Stelle Leben retten könnte.

Die Lage im Berliner Rettungsdienst ist extrem angespannt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ein Notarzt oder ein Rettungswagen (RTW) zu spät kommt und ein Patient deswegen stirbt. Um das zu verhindern, führt die Feuerwehr ab dem 25. März ein neues Kategorisierungssystem ein. Das berichtet die Berliner Zeitung. Die wichtigste Vorgabe: Wer in akuter Lebensgefahr ist, soll weiterhin innerhalb von zehn Minuten Hilfe bekommen. Aber auch nur der!

Das Konzept erinnert an die Triage in Notaufnahmen: Einsätze werden künftig in fünf Dringlichkeitsstufen eingeteilt. Bei Stufe 1 handelt es sich um lebensbedrohliche Notfälle wie Herzstillstand oder Bewusstlosigkeit – hier ist ein Notarzt garantiert, heißt es bei der Berliner Zeitung.

Fälle der Stufe 5 hingegen werden an andere Stellen wie die Kassenärztliche Vereinigung weitergeleitet. Je nach Kategorie entscheidet sich, ob ein Notarzt, ein Notfallsanitäter oder ein Rettungssanitäter zum Einsatz kommt.

Fünf neue Notfallstufen – nicht jeder bekommt sofort Hilfe von den Rettern

Um dieses System zu entwickeln, hat die Feuerwehr in den vergangenen zwei Jahren rund 2,9 Millionen Datensätze analysiert. Seit vorigem Jahr fließen auch Klinikdaten mit ein, um besser einschätzen zu können, ob ein Einsatz tatsächlich so dringend war, wie es am Telefon zunächst klang. Bislang hätte ihre Sicht an der Klinikpforte geendet, erklärt Feuerwehrsprecher Vinzenz Kasch der Berliner Zeitung. „Evidenzbasiert können wir nun andere Entscheidungen treffen.“ Rund 9000 bisherige Einsatzcodes wurden in das neue System übersetzt.

In Notfallstufe 2, zu der Fälle wie Atemnot nach allergischen Reaktionen oder stärkere Blutungen gehören, kann ein Notarzt weiterhin alarmiert werden. Zusätzlich ist es möglich, einen „First Responder“ – ein nahegelegenes Feuerwehrfahrzeug – einzusetzen. Etwa 40 Prozent der Einsätze fallen in diese Kategorie.

Ein Rettungswagen der Berliner Feuerwehr fährt mit Blaulicht zum Einsatz.
Ein Rettungswagen der Berliner Feuerwehr fährt mit Blaulicht zum Einsatz.Monika Skolimowska/dpa

Bauch- und Rückenschmerzen, leichte Vergiftungen oder Traumata ohne gravierende Symptome werden als Stufe 3 eingestuft – rund 35 Prozent der Anrufe. Hier kommt kein Notarzt, sondern ein Notfallsanitäter.

Leichtere Blutungen oder psychische Notfälle ohne akute Gefährdung gehören zu Kategorie 4. Hier kann es zu längeren Wartezeiten kommen, schreibt die Berlier Zeitung. Bislang wurden RTWs oft in weit entfernte Bezirke geschickt, weil lokal keine Fahrzeuge frei waren – was zu chaotischen Verschiebungen führte.

Mit der neuen Regelung bleibt das Fahrzeug an seiner Feuerwache stationiert, um solche Kettenreaktionen zu vermeiden. Wer etwa mit einer Platzwunde in Kategorie 4 fällt, muss künftig mit Wartezeiten von bis zu 22 Minuten rechnen.

Rettungsdienst am Limit – mehr Einsätze denn je

Die Zahlen sind alarmierend: 2023 rückte die Berliner Feuerwehr zu über 465.000 Rettungsdiensteinsätzen aus. Darunter waren 5569 Reanimationen, 13.612 Schlaganfälle und 7427 Herzinfarkte.

Doch nicht nur echte Notfälle nehmen zu – auch sogenannte Bagatelleinsätze steigen stetig. Besonders dramatisch: Im Januar 2024 verzeichnete die Feuerwehr mit bis zu 1800 Einsätzen pro Tag eine historische Höchstmarke, vermutlich verstärkt durch die Grippewelle.

Trotzdem ist allen Beteiligten klar: Das neue System wird die strukturellen Probleme nicht lösen. Die Feuerwehrführung betont, dass die Notfallkategorien nur helfen sollen, die schlimmsten Engpässe abzufedern. Das System ist überlastet – sie müssten die zeitkritischen Fälle in den Fokus nehmen, heißt es.

Gewerkschaften begrüßen das neue Rettungssystem

Möglich wurde die Reform durch eine neue Verordnung der Innenverwaltung, die die Besetzung der RTWs flexibler macht: Für weniger kritische Einsätze wie einen Beinbruch reicht nun ein Rettungssanitäter statt eines Notfallsanitäters aus.

Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) unterstützt die Maßnahme als sinnvollen Versuch, Einsatzkräfte gezielter einzusetzen. So könnten diejenigen, bei denen wirklich jede Sekunde zählt, schneller versorgt werden. Allerdings werde sich die Belastung erst spürbar verringern, wenn Berlin ein neues Rettungsdienstgesetz verabschiedet und eine zentrale Krankentransport-Leitstelle einrichtet.

Noch optimistischer sieht es laut Berliner Zeitung die Deutsche Feuerwehr-Gewerkschaft (DFeuG), die die Reform als echten „Gamechanger“ bezeichnet. Doch es gibt eine Sorge: Wenn die Zahl der Notrufe weiter steigt oder die geplante Krankenhaus- und Notfallreform zusätzliche Probleme schafft, könnten die Fortschritte schnell wieder zunichtegemacht werden. ■