Es ist der späte Abend des 25. Mai. Soeben hat Bayer Leverkusen im Berliner Olympiastadion das Finale um den DFB-Pokal gewonnen. Es ist das Double, das die Werkself feiert. Nicht Granit Xhaka, der Torschütze zum 1:0-Sieg gegen Zweitligist Kaiserslautern, führt die Spieler-Polonaise in die Bayer-Fankurve an. Auch nicht Überflieger Florian Wirtz und auch nicht der großartige Alejandro Grimaldo. Robert Andrich ist es, der 29 Jahre alte Mittelfeld-Dominator. Beim Jubel mit den Anhängern ist er dann der linke Flügelmann, rechts von ihm reihen sich all die anderen auf: Jonas Hofmann, Josip Stanisic, dann erst kommt Lukas Hradecky, der Kapitän, danach all die anderen. Aber: Andrich ist ihr Anführer.
Allein der Moment Sekunden zuvor hat es fast noch mehr in sich. Xabi Alonso, der Meistertrainer, herzt zwar der Reihe nach alle seine Spieler innig, doch bei Andrich hält er sich einen Augenblick länger auf, nimmt dessen Kopf zwischen seine Hände und drückt ihm einen Schmatz auf die rechte Wange. Das ist für den ehemaligen Unioner der endgültige Ritterschlag. Ein Weltmeister und zweimaliger Europameister, ein Champions-League-Sieger und ein ganz Großer seiner Zeit schätzt das, was Andrich in dieser einmaligen Saison für Bayer geleistet hat, mehr als jeder andere. Auf dieses Lob, auf diese Umarmung darf der Mittelfeldmann zu Recht stolz sein.
Was Andrich stark macht, erlernte er in Köpenick
Irgendwie scheinen Trainer und Spieler Brüder im Geiste zu sein. Nie waren sie die großen Zauberer. Für die Kunststücke, selbst wenn sie das eine oder andere spektakuläre Tor erzielten, waren andere zuständig. Dennoch sind derartige Spieler nicht minder wichtig für die Gruppe. Sie sind der Kitt, der alles drum herum in Balance bringt und all das später zusammenhält.

Womöglich hat Xabi Alonso seinen Mittelfeldstrategen noch stärker gemacht, noch besser, noch strukturierter und strategisch wertvoller. Das Gift, seine Bissigkeit, die Fähigkeit, das Spiel des eigenen Teams anzukurbeln, zugleich aber das des Gegners auf nahezu knorrige Art zu zerstören, lernte Andrich schon eher. Diese Fähigkeit erwarb er spätestens in Köpenick. Urs Fischer, der Trainer-Gott der Eisernen, brachte den eigentlich schon etwas ins Straucheln geratenen Andrich zurück in die Spur und auf den Weg zum ganz großen Erfolg.
Jedes Team ist froh über einen wie Andrich
Ein wenig versandet schien die Karriere des gebürtigen Potsdamers zu sein. Nicht bei den Blau-Weißen im Berliner Westend setzten sie, obwohl dort ausgebildet, auf ihn, auch nicht als Leihspieler bei Dynamo Dresden. Schon eher bei Wehen Wiesbaden und erst recht in Heidenheim. Nur war das immer noch unterklassig, erst dritte, dann zweite Liga. Schon ganz andere schafften mit ähnlichem oder größerem Talent nicht den Durchbruch.
Bis das Angebot aus Köpenick kam und Andrich den entscheidenden Kick erhielt. Plötzlich war er mittendrin in der Bundesliga. Ein Traum war in Erfüllung gegangen. Nur war der eher rustikale Typ aufgrund seiner manchmal etwas ungehobelten Spielweise nicht jedermanns Darling. Zu viele Verwarnungen und auch Platzverweise pflasterten seinen Weg. Trotzdem ist jedes Team froh, einen solchen Typen, der die Gegenspieler triezen und schier zur Weißglut treiben kann, in seinen Reihen zu haben. Auch rustikal kann gelegentlich genial sein.
Großes Lob für Andrich von Toni Kroos
Das Tattoo, das er schon damals auf seiner rechten Wade trug, könnte in jenem Moment nicht besser passen. „Träume nicht dein Leben, lebe deinen Traum“ hat er sich stechen lassen. Was nicht so zügig begann, bekommt plötzlich Flügel. Schon in Köpenick, stärker noch in Leverkusen. Es trägt ihn bis ins Nationalteam. Xabi Alonso, selbst als erfolgreicher Trainer eher schüchtern, macht nicht viele Worte, sondern sagt es knapp und klar, zumal er ihn jeden Tag aus dem Training kennt und ihn besser einzuschätzen weiß als die meisten anderen: „Rob hat sich seinen Platz im deutschen Nationalteam verdient.“

Am meisten dort profitiert Rückkehrer Toni Kroos von ihm, seinem neuen Bodyguard. Nachdem sie zum ersten Mal gemeinsam im Nationalteam standen, im März beim 2:0 in Frankreich, war ein neues Mittelfeldpaar geboren, das sich auf Anhieb wie blind ergänzte: Kroos bereitete nach wenigen Sekunden das schnellste deutsche Länderspieltor vor, später kassierte Andrich als einziger deutscher Spieler eine Verwarnung. Alles wie immer eigentlich. Bis auf die Kommentare des 2014er-Weltmeisters: „Wie er sich in dem großen und breiten Kader von Leverkusen festgeackert, festgespielt und festgescort hat, ist bemerkenswert.“
Felix Kroos schwärmt von Rob Andrich
Bei der Nominierung für den EM-Kader sorgte Toni Kroos gemeinsam mit seinem Bruder Felix dann für großes Kino. In ihrem gemeinsamen Podcast „Einfach mal luppen“ sagte das Mittelfeld-Ass von Real Madrid: „Vielleicht stelle ich jetzt den vor, der mir am Ende den Platz weggenommen hat.“ So viel Flapsigkeit leistet sich nur einer, der sein Ticket sicherer hat als jeder andere. Trotzdem ist es wieder so ein Lob für den kompromisslosen Abräumer, mit dem er sich langsam die Stube tapezieren könnte.
Nicht minder kam Felix Kroos ins Schwärmen über seinen einstigen Mitspieler im Stadion An der Alten Försterei. „Ich freue mich sehr, dass wir das hier machen dürfen“, sagte der jüngere der Kroos-Brüder, „vor allen Dingen bei Rob. Die Bindung zu ihm ist bekannt, das haben wir besprochen, und dass ich das hier sagen darf, ganz offiziell, dass mein guter Freund Robert Andrich, mit dem ich vor ein paar Jahren noch zusammen bei Union gespielt habe, dabei sein darf.“
Andrich: Gänsehaut-Momente beim Nationalteam
Es mag für Andrich schwer sein, als Spätberufener sein Glück zu fassen. Es sei „großartig, das Trikot der deutschen Nationalmannschaft zu tragen, die Hymne zu singen und zu wissen, du stehst danach auf dem Platz“, sagt er, „es gibt kaum bessere Momente“. Zugleich ist er locker genug, den Ball, den ein Weltmeister ihm verbal zugespielt hat, als präzisen Doppelpass zurückzuspielen, ohne danach vor Lachen fast zu bersten: „Neben Toni zu spielen ist eine tolle Sache. Ich hoffe, er kann das auch von mir sagen.“ ■