Union-Kolumne

Fußball wird zum Frankenstein – VAR killt nicht nur bei Union jede Emotion

Der Fußball verliert seine Seele: Der VAR entscheidet über Tore im Millimeterbereich. Ist das noch fair? Eine Kolumne über Technik, Wahnsinn und Herzlosigkeit.

Teilen
Fast kein Bundesliga-Spiel vergeht, ohne dass der VAR eingreift. Weil der Videobeweis dann meist Minuten braucht, bis eine Entscheidung steht, wird die Kritik immer größer
Fast kein Bundesliga-Spiel vergeht, ohne dass der VAR eingreift. Weil der Videobeweis dann meist Minuten braucht, bis eine Entscheidung steht, wird die Kritik immer größerMichael Taeger/imago

Von einer Millimeter-Entscheidung haben alle gesprochen. Was keineswegs übertrieben ist. Fünf sollen es gewesen sein, als Ilyas Ansah im Spiel des 1. FC Union gegen Bayern München den Ball ins Tor von Manuel Neuer köpfte. Das ist die Dicke (oder Höhe) von zwei übereinanderliegenden 1-Euro-Münzen. Die Länge des Spielfeldes im Stadion An der Alten Försterei wird mit 105 Metern angegeben. Auf der Hälfte davon, auf 52,5 Metern, hätte Ansah im Abseits stehen können. Aber es waren nur fünf. Und nicht Meter, sondern Millimeter. In Worten: f-ü-n-f! Von der Hälfte des Spielfeldes ist das mehr als der einmillionste Teil.

Fußball-Frust: VAR-Technik der Bundesliga in der Kritik

Wer, bitte, will das mit bloßem Auge erkennen? Wer auch will Richter darüber sein, ob die Linie, die von der Technik gezogen wird, immer auf den berühmten Wimpernschlag exakt gezogen wird? Oder kommen wir immer näher dahin, dass Technokraten darüber entscheiden, was regelkonform ist und was nicht. Und: Welchen Vorteil hat Ansah sich damit verschafft, dass er in dieser Situation vielleicht einen Plattfuß hatte und keinen schmalen Spann? Mit normalem Menschenverstand hat das nichts mehr zu tun. Andererseits: Was schon ist in Zeiten des Kölner Kellers normal?

Siegfried Kirschen, der einstige Top-Schiedsrichter aus DDR-Zeiten, der an zwei WM-Turnieren teilnahm und mit dem ich bis zu seinem Tod vor anderthalb Jahren in engem Kontakt stand, würde sich bei derlei Entscheidungen im Grabe umdrehen. Er hasste den Videobeweis und war bis zuletzt der Meinung, damit dem Fußball die Seele zu nehmen. Bildlicher kann man es kaum benennen.

VAR ist ein Monster, ohne Blut, Nerven und vor allem Herz

Ganz gewiss sind Regeln da, um eingehalten zu werden. Sonst käme es zu Anarchie. Es kann auch niemand behaupten, der 1. FC Union hätte mit Ansahs Tor das Spiel gewonnen. Schließlich war die Partie zu jenem Zeitpunkt noch ganz jung. Aber das, was mittlerweile auf allen Plätzen passiert, kommt immer dichter an Frankenstein. Es ist ein Monster entstanden ohne Blut, ohne Nerven und vor allem ohne Herz.

Das VAR-Zeichen, das keiner mehr sehen will: Schiedsrichter Florian Exner nimmt das Union-Tor zum 1:0 gegen den FC Bayern nach Videobeweis zurück.
Das VAR-Zeichen, das keiner mehr sehen will: Schiedsrichter Florian Exner nimmt das Union-Tor zum 1:0 gegen den FC Bayern nach Videobeweis zurück.imago/Sebastian Räppold/Matthias Koch

Zugleich lassen sich Spieler, Trainer, Manager, auch Journalisten immer öfter zu Bemerkungen verleiten, die Leitplanken einreißen: „Ein Kontakt war da, aber für einen Elfmeter war das zu wenig.“ – „Der Angriff galt dem Ball, auch wenn er das Bein getroffen hat.“ – „Der Schubser hat ausgereicht, um ihn aus der Balance zu bringen, aber er war regelkonform.“ Ein ausgemachter Schwachsinn. Auch am vergangenen Wochenende, beim Spiel des HSV gegen Dortmund, gab es diesen Kommentar: „Torunarigha hat den Ball mit der Hand gespielt. Aber nur ein bisschen. Es war richtig, weiterspielen zu lassen.“ Wie bitte? Das Vergehen des HSV-Verteidigers passierte zum Glück nicht im Strafraum. Da der Arm aber nicht am Körper lag, war es strafbares Handspiel. Das hat man in der Bundesliga zigmal anders erlebt. Es bleibt ein Wahnsinn. Derart viele Fallen, die die Unparteiischen sich mittlerweile aufgebaut haben, können sie gar nicht unfallfrei umschiffen. In spätestens zehn Tagen stehen die nächsten parat.

VAR bei Millimeter-Entscheidungen: Ist das noch gerecht?

Wie es gehen kann, haben vor über einem halben Jahrhundert die Schwimmer gezeigt. Anlass, um über ihre Regeln nachzudenken und noch mehr, den Mut aufzubringen, sie zu ändern, war der Einlauf bei den Männern über 400 m Lagen bei den Olympischen Spielen 1972 in München. Für den Schweden Gunnar Larsson und den US-Amerikaner Tim McKee wurde mit 4:31,98 Minuten die gleiche Zeit gestoppt. Ein totes Rennen, wie man glaubte, mit zwei Goldmedaillen. Dann aber doch nicht. Allein die Technik, in diesem Fall ein Fluch, erlaubte es, den Unterschied von 0,002 Sekunden oder drei Millimetern zugunsten des Schweden auszumachen. Ist das noch gerecht? Ist das sportlich? Ist das fair? Mit längeren Fingernägeln hätte der US-Ami Gold geholt.

Noch nicht gleich, aber ein Jahr später, nach den Weltmeisterschaften 1973 in Belgrad, wurde beschlossen, die Regeln so zu ändern, dass im Sinne des Sports keine Unterschiede unter einer hundertstel Sekunde mehr nachgewiesen werden. Von Ähnlichem sind die Fußball-Technokraten noch Kilometer entfernt und manch herzlose Entscheidung dazu.