Der erste Gedanke, als Jens Riewa die Neuigkeit an einem Sonntagabend verkündet, ist bei vielen: Spinnen die bei der Tagesschau? Gerade hatte der Chefsprecher des Nachrichten-Flaggschiffs der ARD vom Teleprompter etwas vorgelesen, das von seiner Wichtigkeit (besser: Unwichtigkeit) so gar nicht ins große Weltgeschehen passt: „Der Dortmunder Fußballprofi Nico Schlotterbeck wird in den Kader für die Heim-Europameisterschaft im Sommer berufen. Das erfuhr die Tagesschau aus DFB-Kreisen.“ Ende. Kein weiterer Name. Kein Toni Kroos oder Thomas Müller. Kein Manuel Neuer oder Antonio Rüdiger. Kein Ilkay Gündogan oder Kai Havertz. Dafür Riewa mit der nächsten Nachricht: „Und jetzt das Wetter …“
Schön für den BVB-Abwehrspieler. Das schon. Nur: Was ist am Abend eines ausklingenden Wochenendes nur langweiliger, ein Profi, dabei nicht einmal der namhafteste, der Schwarz-Gelben aus Westfalen oder die Tagesschau? Oder beides? Jeder, der fußball-affin ist, kommt sich ein wenig verschaukelt vor. Schlotterbeck – na und? Was ist das jetzt? Hängt da vielleicht irgendwo im Studio in Hamburg eine versteckte Kamera? Und: Ist denn sonst nichts los auf dem blauen Planeten?
Noch ahnt niemand, dass es der Anfang einer Salami-Vorstellung des DFB-Teams für das Turnier um Europas Krone ist und die in den Tagen danach über verschiedene Kanäle Fahrt aufnimmt. Dass es ausgerechnet die älteste deutsche TV-Nachrichtensendung ist, die den Startschuss zu dieser scheibchenweisen Nominierung geben darf, liegt womöglich an alten Seilschaften. Bevor Steffen Simon nämlich im Mai 2022 Direktor Öffentlichkeit und Fans des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) wurde, hatte er die Leitung der ARD-Sportschau inne und kommentierte zahlreiche Fußball-Länderspiele. Für einen solchen Plot musste der kurze Draht des einstigen SFB- und ORB-Mannes doch gut sein.

Nominierung in der Tagesschau für den ehemaligen Spieler vom 1. FC Union
Schlotterbeck jedenfalls ist angetan und fühlt sich geehrt. „Mir hat es gefallen, wie es verkündet worden ist“, sagt er, um umgehend den Fokus auf das Wesentliche zu richten: „Aber das ist jetzt egal. Hauptsache ist: Ich bin dabei.“ Denn, auch das gibt der 24-Jährige zu, zumal Julian Nagelsmann ihn während seiner noch recht kurzen Amtszeit als Bundestrainer für keines der bis dahin sechs Länderspiele unter seiner Leitung berufen hatte: „Intern habe ich viel und oft daran gezweifelt, habe mir Gedanken gemacht. Aber ich habe versucht, in den letzten Wochen und Monaten alles zu geben.“
Dass sich der Abwehrspieler, der am überraschenden Vordringen des BVB ins Finale der Champions League seinen nicht geringen Anteil hat – in den zwölf Spielen bis dahin ließen die Dortmunder lediglich neun Gegentore zu –, mit der Nominierung für den EM-Kader einen Traum erfüllen kann, hing schon mal am seidenen Faden. Das hat auch mit dem 1. FC Union Berlin zu tun. Im Schlechten wie im Guten.

Als Nico Schlotterbeck im Sommer 2020 sozusagen die Nachfolge seines älteren Bruders Keven, der in der Premierensaison der Eisernen als Leihspieler des SC Freiburg die ersten Schritte der Köpenicker in der deutschen Eliteliga mitging, antritt, wirft ihn das trotz eines Tores beim 1:1 in Mönchengladbach nach nur zwei Spielen gleich mal aus der Bahn: Muskelfaserriss. Danach eine Verletzung am Oberschenkel. Zwölf Spiele, in denen der 1. FC Union nur einmal verliert, verpasst er. Dabei wähnt er sich erst am Anfang einer Karriere, die aber schon ins Wackeln zu kommen scheint. Er ist ein Lernender. Einer, der seinen Weg erst noch sucht. Da sind derartige Verletzungen schlimmer als ein Eigentor.
Schlotterecks Start beim 1. FC Union war ziemlich holprig
Es folgen unzählige Stunden mit Athletiktrainer Martin Krüger, freiwillige Zusatzschichten im Kraftraum, immer wieder Stabilitätsübungen und Muskelaufbau. Eine Tortur mit nicht vorhersehbarem Erfolg und einem immer wieder ungewissen Ende. Kaum ist er wieder dabei, sitzt er vorerst auf der Bank. Als er schließlich wieder spielen darf, holpert es im gesamten Team der Eisernen: Niederlage in Augsburg, nur ein mageres 1:1 zu Hause gegen Mönchengladbach, ein 0:1 in Mainz. Dort handelt er sich einen Platzverweis ein. Gelb-Rot und Zwangspause beim 0:0 auf Schalke. Auch das noch.
Es ist ganz und gar nicht seine Zeit. „Als ich vor dreieinhalb Jahren diese Verletzung hatte“, erinnert er sich, „da habe ich mir schon überlegt: Wie geht der Weg weiter? Schaffst du es noch in die Bundesliga?“ Zweifel über Zweifel, schlaflose Nächte und Grübeleien ohne Ende, trotzdem Rückkehr nach Freiburg und vor zwei Jahren der Wechsel nach Dortmund.

Mit dem Sommermärchen 2006 fing bei Schlottereck alles an
Ziel nämlich blieb immer der Sprung zu den Großen, zu einem Spitzenverein, ebenso ins Nationalteam. Das hat auch mit der Weltmeisterschaft 2006 zu tun, dem Sommermärchen. „Die WM 2006 war das erste Großereignis, das ich mitbekommen habe“, sagt Schlotterbeck, „da war eine Euphorie im Land, die man jetzt wieder erleben will.“
Mit ihm, mit dem 1,91 m langen Innenverteidiger, der mit elf Länderspielen nicht mehr ganz grün hinter den Ohren ist, trotzdem noch nicht die Erfahrung mitbringen und Souveränität ausstrahlen kann wie ein Oldie. Dafür ist sein Selbstvertrauen enorm gestiegen. „In den vergangenen Jahren ging es bei mir rapide nach oben. Ich habe eine WM gespielt, ich bin bei einem der größten Klubs Europas und ich darf eine Heim-EM spielen. Darüber bin ich sehr glücklich, und ich bin stolz über meinen Weg.“