Pep Guardiola hätte schon beim Ansatz dieses Schusses wahrscheinlich einen mittelschweren Wutanfall bekommen. Beim Trainer von Englands Meister Manchester City, der fünf Runden vor Saisonende 21 Punkte hinter Liverpool hinterherhinkt und seine Chancen auf eine erfolgreiche Titelverteidigung längst verspielt hat, hätte die Gefahr bestanden, dass ihm seine ohnehin ganz wenigen Haare auf dem Kopf noch schneller ausfallen und die im Gesicht noch eher grau werden könnten.
Schon als Coach von Bayern München war der Spanier vor gut zehn Jahren nämlich auf Toni Kroos und Bastian Schweinsteiger, Arjen Robben und Claudio Pizarro, Robert Lewandowski und David Alaba nicht gut zu sprechen, wenn sie von außerhalb des Strafraumes auf das gegnerische Tor schossen. Das widersprach seinem heiligen Trainergebot von Ballbesitzfußball.
Leo Querfeld, Albtraum von Pep Guardiola
Dann kommt ein 22-jähriger Haudrauf mit Namen Leopold Querfeld, nimmt sich die Frechheit heraus und drischt die Kugel einfach aus 34 (oder auch 33, geschenkt) Metern auf den Kasten, in dem mit Alexander Nübel immerhin ein deutscher Nationaltorhüter steht. Ein Wahnsinn! Drin das Ding im rechten oberen Eck! Ein Jahrhunderthammer. Trotzdem ganz und gar nicht nach Guardiolas Geschmack.
Punktlandung zum Doppel-Jubiläum
Wahrscheinlich hätte er dem Videokeller gratis Rioja oder Tempranillo versprochen, um ja ein Härchen in der Suppe zu finden und dem Treffer die Anerkennung zu verweigern. Denn die Marke, um die es geht, ist die Trefferwahrscheinlichkeit. Die lag bei Querfeld so niedrig wie bei noch keinem Spieler zuvor, bei 1,2 Prozent. Insofern hat Guardiola durchaus recht. Aber eben nur zu 98,8 Prozent.

Seit ihrem Beginn führt die Bundesliga Buch über ihre Rekorde. Im 62. Jahr also schon. Einen Eintrag konnte der 1.FC Union in den langen Listen, in denen es um Tore und Siege, Elfmeter und Niederlagen, Platzverweise und Laufstrecken geht, nicht haben. Erst aus geopolitischen, später aus sportlichen Gründen. Gut sechs Jahre haben die Eisernen Anlauf genommen, um dort aufzutauchen.
Es ist, als hätten sie nur auf die Punktlandung gewartet. Exakt zum Jubiläum, zum 100. Heimspiel und zum 200. in der Bundesliga, haben sie gleich doppelt zugeschlagen. Erst mit dem Knaller von Leopold Querfeld, dann gemeinsam mit dem VfB Stuttgart, der beim 4:4 genau die Hälfte der acht Tore beigetragen hat, die es in der Historie der Liga in einer ersten Halbzeit zuvor nie gegeben hat.
Unerreicht bleibt für immer Karl-Marx-Stadt
Das ist insofern überraschend, weil die Rot-Weißen zumeist eher für Handwerk denn für Geniestreiche stehen. Ganz zu Beginn ihrer Zeit in der Bundesliga, als es für alle nur um ein Abenteuer ging, fanden Feinschmecker, darunter der eine oder andere Haudegen früherer Zeit, nicht sonderlich viel Glanzvolles an der Spielweise der Rot-Weißen, die ihre Angriffe nach dem Motto vortrugen: Bälle weit nach vorn und dann auf sie mit Gebrüll! Die Partie am Ostersonnabend hat jedoch eindrucksvoll gezeigt: Köpenick kann auch Spektakel!
Das beileibe nicht zum ersten Mal. Die Mutter aller Spektakel aus verflossener Zeit bleibt das nicht totzukriegende 3:2, mit dem Olaf Seier und Mitspieler 1988 in Karl-Marx-Stadt die Zugehörigkeit zur Oberliga erzwangen. Danach schon kommt die Bundesliga. Wo anfangen? Mit dem 1:0 im Derby gegen Hertha BSC und dem Elfer von Sebastian Polter?
Spektakel von Bülter bis Haberer
Oder doch schon Wochen zuvor mit dem ersten Sieg in Deutschlands höchster Spielklasse, dem 3:1 gegen Dortmund mit einem Doppelpack des damals weitgehend unbekannten Marius Bülter? Was geben die 2:1-Siege gegen Lieblingsfeind Leipzig her? Erst einmal jener, mit dem 2021 am letzten Spieltag der Einzug nach Europa gelang. Dazu der in der Messestadt mit der Traumtor-Kombination zwischen Sven Michel und Kevin Behrens. Wie ordnen die Anhänger das 6:1 auf Schalke ein, den höchsten Auswärtssieg?

Wo (vorerst) aufhören? Auf alle Fälle ist das 2:1 vor Jahresfrist gegen Freiburg mit dem Elfmeter-Nachschuss von Janik Haberer überaus prominent dabei. Das größte Spektakel aber taucht in der Liste der Bundesliga-Rekorde gar nicht auf. Für andere ist es auch keines. Für die aus Köpenick umso mehr: Ab August sind sie nämlich in ihrem siebten Jahr mit dabei, wenn es um die Meisterschale geht. Das ist mindestens so bemerkenswert wie der Schuss ins Glück von Leopold Querfeld. ■