Nicht falsch verstehen, liebe Unioner – auch und gerade in der jetzigen Situation. Um diesen Spruch wäre auch ohne die Horrorserie von zwölf Pflichtspielniederlagen in Folge niemand herumgekommen. Umso mehr kann es vor der Partie in Europas Königsklasse beim italienischen Meister gar nicht anders heißen als: Neapel sehen und sterben.
Nicht wörtlich nehmen, bitte, auch wenn die Lage in Köpenick sportlich düster ist. Mit dem Sterben beabsichtigen sie es am Fuße des Vesuv nämlich nicht wie vermutet. Auch wenn von hier aus, seit dem 16. Jahrhundert schon, mit der Camorra eine der ältesten und größten kriminellen Organisationen Italiens operiert und es beim erbitterten Kampf um Macht, Einfluss und Geld unzählige Opfer gegeben hat. Vielmehr geht es für den 1. FC Union um das Aus in der Champions League, das hier und damit deutlich vor Ende der Gruppenphase möglich ist. Nach dem vierten Spiel, dem heute Abend, 18.45 Uhr, im ehemaligen Stadio San Paolo – das 2020 nach dem Tod von Vereinslegende Diego Armando Maradona nach dem argentinischen Weltmeister benannt wurde – kann es für die Köpenicker nach zuvor drei Niederlagen in diesem Wettbewerb schon zu Ende sein mit dem Weiterkommen.
1. FC Union: Es geht darum, etwas Außergewöhnliches zu schaffen
„Vedi Napoli e poi muori“, sagen sie hier. So geht der Spruch im Original. „Muori“ heißt tatsächlich „du stirbst“. Nur beginnt gerade damit die Irritation, denn zugleich gibt es in der Nähe ein Dorf namens Muori. Was also?

Geht es darum, etwas Außergewöhnliches zu benennen und zusätzlichen Reiz zu schaffen, spricht man gern in Bildern. Übersetzt soll das nicht heißen, Neapel sehen und auch den benachbarten Ort ... womöglich ist es ja einer, in dem sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen. Es bedeutet tatsächlich, die Schönheit, den Glanz und die Pracht der Metropole zu genießen und nie wieder zu vergessen. Auch wenn Einheimische und Touristen es mittlerweile oft anders sehen. Schließlich, darauf sind die Neapolitaner zu Recht stolz, war Neapel einst das reichste und stärkste Zentrum des Landes.
Diese Kraft, diese Überzeugung haben sich ins Heute gerettet. Wer in den unzähligen Kirchen war und durch die engen Gassen der Altstadt flanierte, wer das Kloster di San Martino besucht und im Abendlicht das Castel dell’Ovo betrachtet hat, wer auf der prächtigen Piazza del Plebiscito saß und den Spuren des antiken Pompeji gefolgt ist, dessen Herz muss überlaufen vor Bewunderung. Nichts, wirklich nichts kann die neapolitanische Grandezza im späteren Leben eines Menschen übertreffen. So meinen sie zumindest hier. Für viele Italiener ist die Stadt ein magischer Ort, ein auf die Erde gefallenes Stück Himmel.
Für viele Italiener ist Neapel ein magischer Ort – für den 1. FC Union auch?
All das interessiert die Eisernen bei ihrer aller Voraussicht nach vorletzten Dienstreise in diesem Wettbewerb nicht die Bohne. Sie haben andere Sorgen, als sich um die verflossene Schönheit zu kümmern. Im Gegenteil. Schließlich ziehen sie die Hässlichkeit von Niederlagen seit vielen Wochen magisch an. Das nervt, das schlaucht, das macht mürbe, das macht unzufrieden, das sorgt für Frust. Ein Ende, das drängt sich gerade dieser Tage mit dem Hammerprogramm am Sonntag auch noch bei Bayer Leverkusen auf, scheint nicht in Sicht. Selbst der Glaube an ein Wunder, so viele sie in der Vergangenheit auch erlebt haben, bröckelt mehr und mehr.
Was dann? Ist der Trip nach Neapel so unnötig wie Gelb wegen Ballwegschlagens? Oder so überflüssig wie ein entscheidendes Gegentor in der x-ten Nachspielminute? Vielleicht auch ärgerlich wie ein verschossener Elfmeter? Kein Stück, sondern ganz anders! Es ist, auch wenn das gefühlt Jahrhunderte zurückliegen mag, Verdienst einer sensationellen Vorsaison, ein Traum und ein für viele Unioner einmaliges Erlebnis. Für die Fangemeinde ist es sowieso ein einzigartiger Rausch.
Es ist nicht einfach, den Spagat zwischen Europa-Sonntag und Liga-Alltag hinzubekommen. Kann man den Moment genießen, ohne an das Morgen zu denken? Ist es realistisch, alle Kraft ins Match gegen den italienischen Champion zu legen? Oder sollte man sich lieber das eine oder andere zusätzliche Körnchen für die Partie vier Tage später beim Bundesliga-Spitzenreiter lassen?
Was in der Vergangenheit mit dem Tanz auf mehreren Hochzeiten grandios glückte, sollte wieder aufflackern. Gerade jetzt, wo es fast vorbei ist und es kaum noch jemand erwartet. Es kann nicht schaden, es den Kritikern zu zeigen. Vor allem aber auch sich selbst. Außerdem: Totgesagte leben meist länger. Selbst nach einem Besuch Neapels. ■