Der klare KURIER-Kommentar

Kyjiw statt Kiew: Kleines Wort – große Diskussion

Die Schreibweise der ukrainischen Hauptstadt in der deutschen Sprache ist immer wieder Gegenstand heftiger Debatten. Dabei ist der Fall klarer als von manchen behauptet.

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Ukrainerinnen und Ukrainer wundern sich, warum im Deutschen weiterhin die russische Schreibweise Kiew statt der ukrainischen Schreibweise Kyjiw verwendet wird.
Ukrainerinnen und Ukrainer wundern sich, warum im Deutschen weiterhin die russische Schreibweise Kiew statt der ukrainischen Schreibweise Kyjiw verwendet wird.Pond 5 Images/Imago

Seit mehr als einem Jahr läuft der großflächige russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, seit mehr als neun Jahren wird die Ukraine schon von Russland angegriffen. Und auch wenn das Verständnis für ukrainische Anliegen in Deutschland seitdem zugenommen hat, so ist der Kulturkampf weiter bei einer Sache in vollem Gange, die eigentlich wie eine Nichtigkeit erscheint. Denn die Anpassung der Schreibweise der ukrainischen Hauptstadt führt zu erbitterten Kämpfen.

Jüngst brachte die Diskussion um die Schreibweise für die ukrainische Hauptstadt der ukrainischstämmige ARD-Korrespondent Vassili Golod wieder ins Gespräch. „Warum schreibt ihr alle ukrainischen Städte richtig, aber den Namen der Hauptstadt immer falsch?“, werde er immer wieder von Ukrainerinnen und Ukrainern gefragt. 

Auch russische Schreibweise Kiew hat im Deutschen keine Tradition

Kiew ist die Transkription des russischen Wortes für die Stadt. Sie kommt von der Schreibweise Киев - also K-i-(j)e-w. Im Ukrainischen hingegen ist es Київ - also K-y-ji-w.

Was für Deutsche wie eine Nichtigkeit erscheinen mag, ist für Ukrainer eine Frage ihrer Identität. Der Sprachwissenschaftler Michael Moser, der dort zu den slawischen Sprachen forscht, kann sich die Hartnäckigkeit der deutschen Verwendung der russischen Schreibweise nicht erklären. „Warum man gerade bei Kyjiw zögert, habe ich bis jetzt nicht verstanden“, schreibt der Professor für Slawistik an der Universität Wien auf Anfrage des Berliner KURIER. So gäbe es zwar eine Referenz für die sehr alte Stadt im Nibelungenlied, wo „von dem lant ze Kiewen“ die Rede ist, doch die Schreibweise beziehe sich auf das altslawische Wort für die Stadt. Später habe man jedoch die Stadt auch mit der polnischen Schreibweise Kijow benannt, als die Stadt unter polnischer Herrschaft stand bis man zur russischen Schreibweise wechselte als sich das russische Zarenreich die Stadt einverleibte.

Wie ARD-Journalist Golod anführt, ist die Verwendung der russischen Schreibweise „mitten im russischen Angriffskrieg“ für Ukrainerinnen und Ukrainer „jedes Mal aufs Neue höchst irritierend und verletzend“.

Inventur in einer Bibliothek in der von Russland besetzten ukrainischen Stadt Henitschejsk: Die russischen Behörden vernichten ukrainische Bücher und verbieten die Sprache in den besetzten Gebieten.
Inventur in einer Bibliothek in der von Russland besetzten ukrainischen Stadt Henitschejsk: Die russischen Behörden vernichten ukrainische Bücher und verbieten die Sprache in den besetzten Gebieten.ITAR-TASS/Imago

Vernichtungskrieg gegen ukrainische Sprache und Kultur

Grund dafür ist, dass der russische Krieg gegen die Ukraine vor allem ein Vernichtungskrieg gegen alles was Ukrainisch ist: gegen die Ukrainer, ihre Kultur und vor allem ihre Sprache. Schon seit der Annexion der Krym 2014 und der Besetzung des Donbas lässt sich beobachten, dass Russland nicht nur keine Rücksicht auf Ukrainer in den besetzten Gebieten nimmt: Es vernichtet sie und ihre Kultur gezielt. Die ukrainische Sprache an Schulen wurde verboten, ukrainische Bücher verbrannt, Menschen, die sich für die ukrainische Kultur einsetzen, als Nazis verunglimpft, verhaftet, gefoltert und ermordet.

De facto ist die ukrainische Sprache und Kultur in diesen Gebieten nicht mehr in der Öffentlichkeit existent. Und das liegt nicht daran, dass es sie dort nie gab. Selbst auf der Krym und im Donbas gab und gibt es signifikante Minderheiten, lokal sogar Mehrheiten von Ukrainischsprechern. Zwei der bekanntesten ukrainischsprachigen Schriftsteller, Wasyl Stus und Serhij Schadan, sind im vermeintlich russischsprachigen Osten aufgewachsen. 

Auch wenn es für die Ukraine durchaus größere Probleme gibt, pochen ukrainische Aktivisten in Deutschland immer wieder auf die Verwendung der ukrainischen Schreibweise. „Es ist ein Akt der Anerkennung und Unterstützung für die nationale Identität der Ukraine – vor allem während des russischen Angriffskrieges“, so Krista-Marija Läbe von der ukrainischen Organisation Vitsche in Berlin.

Andere Relikte der russischen und sowjetischen Namensgebung sind verschwunden

Warum im Deutschen weiter hartnäckig an der russischen Schreibweise festgehalten wird, ist auch deshalb unverständlich, weil nach 1991 auch die alten russischen Namen der Städte  Tallinn (zuvor Reval) verschwanden. Auch für Städte, welche eingedeutschte Namen haben, werden meist die Eigenbezeichnungen aus der jeweiligen Sprache verwendet: Vilnius (Wilna), Tbilisi (Tiflis). Und auch die finnische Hauptstadt heißt bei uns Helsinki, obwohl sie von Schweden als Helsingfors gegründet wurde.

Die Beibehaltung von Kiew statt Kyjiw ist umso absurder, weil sich selbst bei anderen ukrainischen Städtenamen mittlerweile die ukrainische Schreibweise durchgesetzt hat, obwohl in diesen Städten mehr Russisch gesprochen wird als in der ukrainischen Hauptstadt: Charkiw (russisch: Charkow), Slowjansk (Slawjansk), Krywyj Rih (Kriwoj Rog) sind da nur ein paar Beispiele. Selbst Lwiw, für das es eigentlich das alte deutsche Lemberg gibt, wird mittlerweile meist als Lwiw oder Lviv geschrieben und nicht als Lwow oder Lvov. Die Stadt Dnipro wird mittlerweile auch von Deutschen so genannt, wobei der Fluss hingegen weiter auf Russisch als Dnjepr bezeichnet wird. Hier zeigen sich die teils absurden Gewohnheiten.

Beim Namen für die frühere deutsche Stadt Königsberg zeigen sich die Deutschen flexibler und verwenden den russischen Namen Kaliningrad - obwohl Michael Kalinin den Befehl zur Erschießung von mehr als 25.000 polnischen Bürgern gab.
Beim Namen für die frühere deutsche Stadt Königsberg zeigen sich die Deutschen flexibler und verwenden den russischen Namen Kaliningrad - obwohl Michael Kalinin den Befehl zur Erschießung von mehr als 25.000 polnischen Bürgern gab.Pond 5 Images/Imago

Flexibilität bei Massenmördern und Autokraten

Flexibel zeigen sich viele Deutsche hingegen, wenn es um die Benennung russischer Städte geht. Deutschen geht Kaliningrad leicht über die Lippen, obwohl die Stadt von Deutschen gegründet wurde, Jahrhunderte Königsberg hieß und selbst viele patriotische Russen die Stadt liebevoll „König“ nennen. Da stört man sich auch nicht daran, dass die Stadt den Namen eines Massenmörders trägt, der seine Unterschrift unter den Vernichtungsbefehl für mehr als 25.700 polnische Kriegsgefangene setzte – um nur eines zu nennen.

Auch bei der Umbenennung der kasachischen Hauptstadt Astana in Nur-Sultan zeigten sich vor allem deutsche Medien sehr schnell sehr flexibel - auch wenn die Umbenennung nur auf das Dekret eines Autokraten zurückging, welches mittlerweile wieder rückgängig gemacht wurde. Es erschien selbst dem jetzigen Herrscher zu irre.

Auch wenn Bundesaußenministerin Annalena Baerbock in ihren Schreiben die ukrainische Schreibweise Kyjiw oder Kyiv verwendet, nutzt ihr Ministerium weiterhin die russische Schreibweise.
Auch wenn Bundesaußenministerin Annalena Baerbock in ihren Schreiben die ukrainische Schreibweise Kyjiw oder Kyiv verwendet, nutzt ihr Ministerium weiterhin die russische Schreibweise.Oliver Weiken/dpa

Im anglophonen Bereich längst geklärt

Doch die Resilienz in der deutschen Öffentlichkeit zieht sich auch durch die offiziellen Institutionen. So schreiben Behörden und Ministerien weiter Kiew statt Kyjiw. Selbst das der Ukraine eher zugeneigte Außenministerium von Annalena Baerbock nutzt weiterhin stur die russische Schreibweise Kiew, ebenso wie der Bundeskanzler.

Doch was braucht es, damit sich die Schreibweise vielleicht doch endlich ändert? Sprachwissenschaftler Moser macht es nur an einer Sache fest: „Man müsste die eigene Trägheit ablegen, wie dies im englischsprachigen Raum geschehen ist“, sagt er. Auch dort wurde die russische Schreibweise Kiev lange verwendet. Mittlerweile schreiben alle wichtigen englischsprachigen Medien, Ministerien und Unternehmen jedoch Kyiv. Es kann also ganz einfach sein.