Bürgermeisterin will es nicht glauben

2415 Einwohner auf Usedom einfach verschollen: Wie kann das denn sein?

Tausende Bürger einfach verschwunden. Selbst die Bürgermeisterin kann sich das nicht erklären.

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In der Ostseegemeinde Heringsdorf auf Usedom verliert auch unerklärliche Weise Einwohner.
In der Ostseegemeinde Heringsdorf auf Usedom verliert auch unerklärliche Weise Einwohner.Olaf Schuelke/Imago

Tausende Bürger einfach verschwunden? Im Ostseebad Heringsdorf auf Usedom sollen plötzlich 2415 Einwohner einfach fehlen. Doch wie ist das möglich?

Jährlich kommen hier mehr als 700.000 Urlauber an die Ostseeküste in Mecklenburg-Vorpommern. Einwohner hat die Stadt 8406 – zumindest lauf Einwohnermeldeamt. Doch das stellt nur einer infrage: der Zensus, berichtet das ProSieben-Magazin „taff“. Der Zensus ist eine Bevölkerungsbefragung, die ungefähr alle zehn Jahre durchgeführt wird. Diese ermittelt, wie viele Menschen in einem Land leben, wo sie wohnen und wie sie arbeiten.

Dazu sind alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union verpflichtet, um europaweit vergleichbare Daten zu schaffen. Bei der letzten Zählung hat der Zensus dabei im Ostseebad Heringsdorf statt 8406 nur 5991 Einwohner gezählt – eine Abweichung von fast 30 Prozent, berichtet taff weiter.

Bürgermeistern vom Ostseebad Heringsdorf Laura Isabelle Marisken steht auf der berühmten Seebrücke.
Bürgermeistern vom Ostseebad Heringsdorf Laura Isabelle Marisken steht auf der berühmten Seebrücke.arguseye/Imago

„Ist Ihnen aufgefallen, dass hier scheinbar jede dritte Person verschollen sein soll?“, fragt das Magazin dann Einwohner. Die können nur Kopfschütteln. Ein anderer Bewohner bemerkt, dass man wohl den Zensus überarbeiten sollte. Die in Berlin geborene Insel-Bürgermeisterin Dr. Laura Isabelle Marisken sieht das wahrscheinlich genauso. Seit 2019 ist sie, selber parteilos, Bürgermeisterin von Heringsdorf und Ahlbeck. Sie ist mit 36 Jahren eine der jüngsten Bürgermeisterinnen in Deutschland.

Heringsdorf muss jetzt knapp eine Million Euro einsparen

Allein vergangenes Jahr waren in der Gemeinde Ostseebad Heringsdorf 7230 Bürger zur Wahl zugelassen. „Wir haben tatsächlich weitaus mehr Wahlberechtigte als Einwohner“, erklärt Marisken bei „taff“. „Also es wäre ja mal jemanden aufgefallen, wenn jeder dritte Bürger fehlt.“

Über 2400 Einwohner weniger auf der Insel. Kann es sein, dass sich auch eine Volkszählung mal verzählt? Dafür hat „taff“ beim Innenministerium in Schwerin nachgefragt, dass für die Durchführung des Zensus in Mecklenburg-Vorpommern zuständig ist. Antwort: „Die Diskrepanz zwischen den amtlichen Melderegistern der Kommunen und den im Zensus festgestellten Bevölkerungszahlen resultiert aus den unterschiedlichen Quellen“, lautet die Antwort des Ministeriums.

Die Seestraße in Heringsdorf. Nun muss das Ostseebad fast eine Million Euro einsparen.
Die Seestraße in Heringsdorf. Nun muss das Ostseebad fast eine Million Euro einsparen.Schöning/Imago

Die Daten der Melderegister würden im Wesentlichen aus dem aktiven Meldeverhalten der Bevölkerung resultieren. Der Zensus hingegen ist eine bundesweite Bevölkerungszählung nach einem bundesweit einheitlichen Verfahren zu einem bestimmten Stichtag (für den Zensus 2022 war dieser Stichtag der 15. Mai 2022).

Beispiele für Abweichungen zwischen den Melderegistern und den Zahlen des Zensus können sich unter anderem aus den
folgenden Gründen ergeben:
  • Menschen haben sich nicht an ihrem Hauptwohnsitz angemeldet.
  • Menschen haben sich bei einem Fortzug aus der bisherigen Gemeinde nicht in ihrer neuen Gemeinde angemeldet.
  • Menschen haben sich beim Fortzug ins Ausland nicht abgemeldet
  • Kinder sind noch Zuhause gemeldet, weil Sorge um das Kindergeld o.a. Bestand, obwohl sle für die Ausbildung oder ein Studium woanders unter Umständen leben, die dort zum ersten Wohnsitz führen,
  • während bspw. der Pandemie von Zweit- in Erstwohnsitze umgewandelte Wohnungen danach nicht wieder als
  • Zweitwohnsitze umgemeldet wurden

Durch die mutmaßliche Falschzählung fehlen der Gemeinde 930.000 Euro im Jahr an Geldern, die sie vom Land Mecklenburg-Vorpommern erhalten hätte. Also rund zehn Prozent weniger Zuschüsse, die nun eingespart werden müssen. „Mehrere Kilometer Gehweg. Fast 20 Bauhofmitarbeiter oder 18,3 Jahre Vereinsförderung. Man kann jetzt nicht konkret die eine Maßnahme sagen, die gespart wird. Aber insgesamt eine Million Euro einzusparen, ist schon immens“, erklärt Marisken.

Das Innenministeriums Mecklenburg-Vorpommern in Schwerin.
Das Innenministeriums Mecklenburg-Vorpommern in Schwerin.BildFunkMV/Imago

Jetzt hat die Bürgermeisterin ihre Bürger selbst durchzuzählen lassen. Und zwar mit einer Grußkarte an jeden Einwohner. „Es gibt ja die These, dass das amtliche Melderegister von uns nicht richtig sei. Von den Einwohnerinnen und Einwohnern, die wir in der Melderegister-Datei haben, die haben wir alle einzeln angeschrieben. Und hätten die jetzt keinen Briefkasten mehr oder wären verzogen, dann ist es ja so, dass man den Brief nicht zustellen kann. Von diesen über 8300 Sendungen kamen insgesamt 98 zurück“, so Marisken weiter zu „taff“.

Das wären dann aber nur ein Prozent weniger Bürger als angenommen und nicht 30 Prozent. Die Zahl, die es laut Zensus wären. Da der aber bislang keine Neuzählung veranlasst hat, hat Frau Marisken Klage eingereicht. Und sie ist damit nicht allein. Mehr als 80 Kommunen haben allein beim Verwaltungsgericht in Greifswald geklagt. Mecklenburg-Vorpommern scheint besonders betroffen von den vermeintlichen Falschzählungen des Zensus.

Ob die Klage Erfolg haben wird oder die fehlenden Bürger am Ende noch auftauchen, wird sich zeigen. Doch biss jetzt hat noch keine Gemeinde gegen den Zensus gewonnen. ■