Totschlag bejubelt

Kommentar: Klare Kante gegen Selbstjustiz-Verharmlosung im Netz

Aufgewühlte Diskussionen spielen sich in den sozialen Kanälen des Berliner KURIER ab – aber ist das Bejubeln von Selbstjustiz hinnehmbar? Ihre Meinung ist gefragt.

Author - Joane Studnik
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Aufruf zur Selbstjustiz auf einem Auto-Aufkleber: Solche Forderungen sind insbesondere bei Rechtsextremen populär.
Aufruf zur Selbstjustiz auf einem Auto-Aufkleber: Solche Forderungen sind insbesondere bei Rechtsextremen populär.imago/Eckhard Stengel (Archivbild)

Ein Mann wird auf offener Straße brutal totgeschlagen, die Hintergründe der Tat sind unklar, doch in den sozialen Medien ist das Urteil bereits gefällt: Das Opfer ist selbst schuld, die Täter, die das Recht selbst in die Hand nehmen, „wenn die Justiz versagt“ – so behauptet ein Facebook-Kommentator unwidersprochen – werden als Helden gefeiert, weil sie einen Menschen erschlagen.

Der Grad an Verrohung, die derart enthemmte Äußerungen auf Facebook oder X ausdrückt, verschreckt derzeit viele, die Facebook, X und andere soziale Plattformen nutzen wollen, um sich mit Freunden auszutauschen, informiert zu sein und sich mit anderen Meinungen auseinanderzusetzen. Doch gerade diese unschätzbar wichtige Funktion, der Meinungsaustausch, wird bedroht durch Algorithmen von Tech-Riesen wie Meta, Microsoft und X, die immer schrilleren Äußerungen Reichweite geben. Mäßigende Einwände gehen allzu häufig unter, werden allenfalls mit Lach-Smileys verhöhnt.

Selbstjustiz-Jubel auf Facebook: Die breite Masse will tatsächlich Recht und Gesetz

Einige haben erkannt, wie man Facebook & Co. als Radikalisierungsmaschine nutzen, Emotionen schüren kann – und das sind nicht nur Personen mit extremen Meinungen, sondern sogar Staaten, die ganze Bot-Armeen beschäftigen, um Social-Media-Posts gezielt mit extremen Meinungen zu überfluten, Aufrufe zu Gewalt und Hass mit vielen Likes zu stärken. User sollen so den Eindruck gewinnen, Polizei und Justiz seien machtlos, man müsse das Recht in die Hand nehmen und den Rechtsstaat stürzen.

Das ist freilich blanker Blödsinn, die breite Masse möchte genau das Gegenteil, nämlich dass Recht und Gesetz gilt. Viele ärgert, dass geltendes Recht aufgrund von Personalmangel in der Justiz oder wegen Ermittlungspannen mitunter nicht durchgesetzt wird, oder reagieren frustriert, dass Rechtsfälle vor Gericht komplizierter sind, als es von außen scheint. Aber den Rechtsstaat abschaffen wollen die wenigsten. Dennoch gelingt es diesen Wenigen, Emotionen aufzuwühlen und den Eindruck zu erwecken, in einer Stadt wie Berlin gehe es zu wie in Sodom und Gomorrah.

Keine Zensur auf X und Facebook - aber Aufrufe zur Selbstjustiz sind keine Meinungen

In einer Großstadt in Berlin passieren täglich Straftaten und ärgerliche Vorkommnisse, über die der KURIER täglich berichtet – neben vielen erfreulichen Dingen, die diese Stadt lebenswert machen. Die sozialen Kanäle des Berliner KURIER sind Plattformen, über die sich Follower auch darüber austauschen. Dafür sind sie da, die KURIER-Redaktion ist begeistert, wie frei ihre Follower ihre Meinung ausdrücken, geht nur in Fällen von klaren Verstößen gegen Gesetze und Missachtung unserer KURIER-Netiquette dazwischen.

KURIER-Leserinnen und -Leser haben unterschiedliche Meinungen, und es ist wunderbar, wenn sich diese Meinungsvielfalt auch in den sozialen Kanälen widerspiegelt. Der KURIER löscht keine Meinungen, weil sie unbequem sind, ermuntert aber auch ausdrücklich dazu, dagegen zu halten, wenn Leute gefährlichen Unfug verbreiten. Denn Aufrufe zur Selbstjustiz sind keine Meinung, auch wenn sie als Meinungskommentar daherkommen. Sie sind der Versuch, enthemmte Emotionen aufzuwühlen – und davon abzulenken, worüber in den Artikeln tatsächlich berichtet wird. Ermittlungen wie die zum Tod eines Obdachlosen in Berlin-Reinickendorf sind noch nicht abgeschlossen, während Medien darüber berichten. Medien berichten über vorläufige Erkenntnisse, weil Menschen über den Stand von Ermittlungen informiert werden wollen. Die Informationen sind aber in einem ersten Bericht niemals vollständig, und auch im vorliegenden Fall müssen Ermittler Zweifel an ersten Erkenntnissen nachgehen. Wie kommt man angesichts einer solchen Gemengelage dazu, die Tötung eines Menschen zu bejubeln?

Opfer „selbst schuld“? Geben Sie bei abstrusen Facebook-Kommentare Kontra

Wenn unklar ist, was tatsächlich vorgefallen ist, nutzen Scharfmacher in den sozialen Medien die Verunsicherung, säen Zwietracht und Hass. Lassen Sie sich nicht davon anstecken – lesen Sie die Artikel, die wir anlinken, damit Sie sich erst einmal selbst ein Bild machen können. Glauben Sie nicht alles, was in Facebook-Kommentaren behauptet, teils frei erfunden wird. Kann jemand, der von einer Gruppe Männern gejagt und totgeschlagen werden, „selbst schuld“ sein? Das ist vielleicht die Stelle, an der Sie selbst aktiv werden und einwenden wollen: Was erzählen Sie, User XY, auf Facebook hier eigentlich?

Denn dafür wurden soziale Medien erfunden und können weiterhin zu genutzt werden – zum Meinungsaustausch auf Augenhöhe. Dafür braucht es Sie, und deswegen laden wir Sie ausdrücklich ein: nutzen Sie unsere sozialen Kanäle Facebook, BlueSky, X, Instagram, bilden Sie sich Ihre eigene Meinung und geben Sie auch gerne Kontra, wenn Sie sehen: da verbreitet jemand bewusst Unwahrheiten oder versucht, Leute aufzuhetzen. Wenn direkt zu Gewalt oder Hass aufgerufen wird, melden Sie den Kommentar. Aber vor allem: Drücken Sie Ihre eigene Meinung aus, widersprechen und akzeptieren Sie, dass andere möglicherweise Ihre Meinung nicht teilen. Dafür stellt der KURIER seine sozialen Kanäle zur Verfügung - wo es auch oft zur Sache geht, wenn es um Hertha, Union oder andere Herzensthemen geht. Toll, dass dort viele User mit Leidenschaft kommentieren – denn die KURIER-Community hat zum Glück mehr als eine Meinung: Äußern Sie diese gerne auch zu diesem Thema auf unseren sozialen Medien!