Ein Startup am Stadtrand von Berlin verschafft Kult-Mopeds aus der DDR ein zweites Leben und sorgt für Wirbel im Netz: Auf die elektrifizierten Umbauten von Second Ride reagieren Simson-Fans mit Ablehnung, Verwunderung – und Kaufinteresse. Wie das zusammengeht, erklärt Second-Ride-Gründer Carlo Schmid dem KURIER.
Die DDR hatte Carlo (26) nie selbst erlebt. Doch das erste Moped, das er vor neun Jahren kaufte, war eine Schwalbe, die ikonische KR51, montiert vor Jahrzehnten im Simson-Werk Suhl. „Ich hatte keine Ahnung, was Simson ist, dass es mit der DDR zu tun hat. Ich fand einfach, dass diese Fahrzeuge total schön und ikonisch aussehen.“
Am Anfang stand der Ärger über kaputte Simson: „Von Motoren hatte ich keine Ahnung“
Doch am Anfang stand eine Panne: Zwei Tage nach dem Kauf stand der 17-Jährige ratlos vor seiner Schwalbe – sie sprang nicht mehr an. „Ich war handwerklich interessiert, aber von Motoren hatte ich keine Ahnung.“ Carlo schaute sich Youtube-Tuturials an, „wie man Vergaser reinigt und wie man herausfindet, woran es liegt“. Dadurch habe er Spaß am Schrauben gewonnen, „gleichzeitig aber auch viel Frust über diesen Motor“.

Als Maschinenbau-Student entwickelte Carlo aus dieser Erfahrung heraus an der TU Berlin seine Geschäftsidee: Er gründete eine Projektwerkstatt, tüftelte dort mit anderen Studierenden zwei Jahre daran, technisch obsolete Fahrzeuge aufzufrischen, statt sie zu verschrotten – so wie man Kleidung im Second-Hand-Shop ein zweites „Leben“ ermöglicht, statt sie in den Container zu werfen. „Second Hand Mobility“ nannten sie es damals, inzwischen spricht Carlo von „Retro Fit“: Nachhaltig soll es sein, kostengünstig umzusetzen sein, bezahlbar bleiben – vor allem: Emotionen wecken.
Leuchtende Augen: Mit der Simson verbinden alle Ostdeutschen DDR-Erinnerungen

Und welches Fahrzeug weckt stärkere Emotionen als eine Simson:„ Immer wenn wir auf Messen stehen, leuchten die Augen bei Menschen, die in der DDR großgeworden sind, erzählen uns, wie sie damit zur Schule gefahren sind, dass sie ihre Simson zur Jugendweihe geschenkt bekommen haben.“ Wie alle Jüngeren kennt Carlo diesen DDR-Alltag aus Erzählungen, aus denen Ost-Identität geschmiedet wird.
500.000 dieser DDR-Mokicks und Mopeds sollen noch zugelassen sein, viele weitere stehen eingemottet in Höfen und Garagen herum, könnten restauriert und flott gemacht werden.
Carlos Idee, die er im Studium entwickelte: statt jedes Fahrzeug individuell und teuer umzubauen, „braucht es einen universellen Bausatz, der schnell und einfach anzubringen ist“. Das wiederum ermöglicht, den Bausatz quasi „wie am Fließband“ herzustellen. Die Produktidee: Ein 5,5-PS-Motor, der die Simson deutlich kräftiger als der ursprünglich verbaute Zweitakter vorantreibt, ein Akku, der platzsparend in der Sitzbank verbaut ist. Auf Gründer-Wettbewerben kam die Idee gut an; Preisgelder ermöglichten Carlo, mit seiner Projektwerkstatt Prototypen zu bauen.
Simson-Kult: Die ersten Kits waren schon ausverkauft, bevor sie überhaupt fertig entwickelt waren

Um aus der Idee ein Unternehmen zu machen, braucht es Geld. Statt auf einen spendablen Investor zu hoffen, kam Carlo eine kühne Idee: Er stellte 30 der noch nicht fertig entwickelten Umbaukits in einen schlichten Online-Shop für diejenigen, die Second Ride mit Geld unterstützen wollten. „Wir haben uns 30 Tage gesetzt, die 30 Kits zu verkaufen. Wenn wir das nicht schaffen, brechen wir es ab.“ Eine Stunde, nachdem die Aktion online ging, seien die Kits bereits ausverkauft gewesen.
Mit dem Geldpolster auf dem Konto konnte Carlo eine verlassene Feuerwehrwache auf dem Marienpark in Berlin-Mariendorf anmieten, die nun als Produktionsstätte und Showroom für Second Ride dient.
In drei Stunden Bastelei werden aus DDR-Simsons Elektroflitzer
Im Online-Shop gibt's die Umbausätze für handwerklich versierte Bastler zu Preisen ab 2690 Euro. Das Versprechen: In drei Stunden wird eine Schwalbe oder S51 zum Elektro-Flitzer. Wer sich das nicht zutraut, bekommt bei Second Ride inzwischen auch komplette, fahrfertige Umbauten ab 5990 Euro für die S51. Die Gebraucht-Motorräder werden von Partner-Firmen restauriert, die Antriebe baut Second Ride in Berlin-Mariendorf mit der Hand zusammen.
Die Fertigung in dem kleinen Werk steuert Kai Marten – vormals Produktionsleiter bei VW, AMG und Mercedes. Entsprechend professionell sieht es an der kleinen Fertigungsstraße aus: Die Einzelteile für den Antrieb und Batteriezellen für den Akku liegen akkurat bevorratet in Regalen, zusammengeschraubt von Mitarbeitenden wie Mirwais Khan. Stundenweise packen Werksstudenten mit an. Einen Fertigungs-Profi wie Kai im Team zu haben – ein Glücksgriff: Kai ist der Vater von Carlos Mitgründer Sebastian Marten. Der kam quasi als Carlos „Partner fürs Leben“ nach einem ganzen Jahr zeitintensiven „Dating“ zur Firma, nachdem dieser selbst bereits zwei Startups gegründet, dann nach fünf Jahren Festanstellung bei Mercedes Lust auf etwas Neues hatte.
Blanker Hass bei Simson-Ultras: „Am Anfang hatte ich Angst, zusammengeschlagen zu werden“
Nur: wie kommt so ein Vorhaben in der stockkonservativen Simson-Community an? „Wir gehen auf jedes Simson-Treffen, auch auf die härtesten Treffen, die für rechtsextreme Parolen bekannt sind.“ Vorher habe Carlos Team im Internet Gewaltandrohungen erhalten. „Am Anfang hatte ich ernsthaft Angst, dass wir da zusammengeschlagen werden.“ Auf den Treffen blicke er aber „maximal mal in ein angeekeltes Gesicht“. Solchen Reaktionen begegnet Carlo mit einer Einladung zu einer Probefahrt. Gelegentlich zeigt das Wirkung: Erst habe ihn einer dieser „Petrolheads“ verspottet, beim nächsten Simson-Treffen habe sich derselbe auf eine Probefahrt eingelassen – schließlich habe er das Umbaukit gekauft.
Richtig bekannt in der Szene wurde Second Ride vor drei Jahren durch einen Beitrag auf dem Youtube-Kanal „2Radgeber“: Dort hatte Carlo bereits als 17-Jähriger Tipps gefunden, seine kaputte Schwalbe wieder flott zu machen. Nun stellten die Simson-Influencer Chris und Martin mit ihren 116.000 Abonnenten die Elektro-Umbauten vor. „Das schlug ein wie eine Bombe“, erinnert sich Carlo.
„Kulturschänder, blöde Wessis“: Internet-Hater machen die Elektro-Simsons ungewollt erfolgreich
Neben viel Aufmerksamkeit brachte das Second Ride aber noch mehr Anfeindungen: „Wir haben bis heute 900 Kits ausgeliefert und mindestens 10.000 Leute sehr wütend gemacht.“ Elektromobilität polarisiert, aber dass dieses Thema so starke Emotionen auslöst, verblüfft und gefällt Carlo. Denn seiner Firma hilft es: Die Algorithmen von Youtube und Instagram lieben den Hate. „Wir haben Reels mit einer halben Million Aufrufe, weil darunter 400 Kommentare stehen, dass wir schwul, Kulturschänder, blöde Wessis seien, dass wir uns an der Straße festkleben. “ Das sorgt dafür, dass solche Beiträge von immer mehr Leuten gesehen werden. Die Hater erreichen das Gegenteil von dem, was sie wollen: Sie verhelfen den Elektro-Simsons zum Erfolg.
Aber ist nicht etwas Wahres an den Vorbehalten, dass die Schwalben und S51 schwer ohne Krach und Zweitakter-Gestank vorstellbar sind? Sind die Elektro-Umbauten nicht doch irgendwie eine Verfälschung dessen, was sich die Konstrukteure im Suhler Simson-Werk damals vorstellten?