Erst ein Gefiepe, das wie Morsezeichen klang, dazu kreisten die Logos von ARD und ZDF über Fernsehantennen. Dann taumelte der Bundesadler ins Bild und die nervige Tonfolge ging in eine zerhackte Klaviersequenz aus dem „Deutschlandlied“ über. So begann die bekannteste Propaganda-Sendung des DDR-Fernsehens – „Der schwarze Kanal“. Der Vorspann sollte wohl klarmachen: Was da im West-Fernsehen gezeigt wurde, könne nur Mist sein, sei nur schwer zu ertragen. 29 Jahre lang ging Polit-Moderator Karl-Eduard von Schnitzler jeden Montagabend auf Sendung. Doch nicht die Wende besiegelte das Schicksal der Sendung: Karl-Eduard von Schnitzler wurde schon wenige Tage zuvor aus dem Programm geworfen. Nicht einmal Egon Krenz konnte ihn retten.
Über 29 Jahre und 1519 Folgen lang: Jeden Montag, um 21.35 Uhr, machte sich Karl-Eduard von Schnitzler 20 Minuten lang über Ausschnitte aus Nachrichten, Reportagen und Polit-Magazinen aus dem Westfernsehen her. Die Ausschnitte wurden von ihm bearbeitet, gekürzt, verfälscht, er riss kurze Passagen aus dem Zusammenhang – immer mit der Intention, den Westen als verkommende, dem Untergang geweihte Gesellschaft darzustellen.
Karl-Eduard von Schnitzler: Immer mit dicker Brille und Parteiabzeichen am Revers
„Der Schwarze Kanal, den wir meinen, meine lieben Damen und Herren, führt Unflat und Abwässer; aber statt auf Rieselfelder zu fließen, wie es eigentlich sein müsste, ergießt er sich Tag für Tag in Hunderttausende westdeutsche und West-Berliner Haushalte. Es ist der Kanal, auf welchem das westdeutsche Fernsehen sein Programm ausstrahlt: Der Schwarze Kanal. Und ihm werden wir uns von heute an jeden Montag zu dieser Stunde widmen, als Kläranlage gewissermaßen“, erklärte von Schnitzler in der ersten Sendung am 21. März 1960 – also noch vor dem Mauerbau.
Auffällig war die Kälte, die diese Sendung ausstrahlte. Der Moderator und Kommentator agierte immer vor einem Bluescreen, auf dem nichts gezeigt wurde. Karl-Eduard von Schnitzler, immer mit dicker Brille und Parteiabzeichen am Revers, las vom Zettel Zitate aus Westzeitungen ab oder moderierte Ausschnitte aus Sendungen von ARD und ZDF an.
Zum Start der Sendung wollte Schnitzler breite Zielgruppen „von Lieschen Müller bis Dr. Lieschen Müller“ erreichen, kann man auf Wikipedia lesen. Aber die DDR nutzte die Sendungen für Politpropaganda, für Parteifunktionäre und NVA-Offiziere, im Politunterricht bei der NVA und im Staatsbürgerunterricht der DDR-Schulen wurden die Sendungen gezeigt.
Am 27. August 1962 bezeichnete von Schnitzler den 18-jährigen Peter Fechter, ein unbescholtener Maurergeselle, der bei einem unbewaffneten Fluchtversuch vor laufender Kamera im Stacheldraht am Checkpoint Charlie verblutete, als „einen angeschossenen Kriminellen“. Der SFB-Kommentator Günther Lincke verpasste dem Moderator wegen seiner Hass-Tiraden den Spitznamen „Sudel-Ede“ – ein Spitzname, der auch in der DDR unter der Hand geläufig war. Wer nicht musste, guckte sich diese Sendung nicht an.

Dabei war der adelige Karl-Eduard Richard Arthur von Schnitzler (geboren im April 1918 in Berlin-Dahlem), der sich selbst als außerehelichen Urenkel von Kaiser Friedrich III. und Großneffen von Kaiser Wilhelm II. sah, dem Westen gar nicht so abgeneigt. Natürlich durfte er ohne Probleme in den Westen reisen, fiel dabei das eine oder andere Mal besoffen von West-Berliner Barhockern, deckte sich unter dem Decknamen „Klett“ im KaDeWe mit eleganten Anzügen und Delikatessen ein. Und Gattin Martha, seine vierte Ehefrau, machte 1983 in West-Berlin Schlagzeilen: Sie wurde beim Ladendiebstahl im Kaufhaus Bilka am Zoo auf frischer Tat ertappt. Ihr Diebesgut: zwei Packungen Damensöckchen, Größe 39, im Wert von 16,40 D-Mark.
Und der Ost-Berliner bekam dieses Doppelleben natürlich mit. Im Westfernsehen wurde über diese Fehltritte genüsslich berichtet. Fehltritte, die das Ansehen von Karl-Eduard von Schnitzler auch im Osten immer mehr ramponierten. Sahen in den ersten Jahren noch bis zu 25 Prozent der DDR-Bürger den „Schwarzen Kanal“, sanken die Einschaltquoten zum Schluss auf drei bis fünf Prozent. Das waren die, die zuschauen mussten.
„Schnitzler weg von Bild und Ton, der besudelt die Nation!“
Bei den Protest-Demonstrationen kurz vor der Wende war „Sudel-Ede“ eines der Hauptfeindbilder. Auf Transparenten forderten Leipziger am 23. Oktober 1989: „Schnitzler weg von Bild und Ton, der besudelt die Nation!“ Bei anderen Demos wurde lautstark skandiert: „Schnitzler lass das Lügen sein, kauf nicht mehr im Westen ein!“
Der Protest führte zu einer Reaktion des DDR-Fernsehens. Fernsehchef Heinz Adamek wollte, dass Karl-Eduard von Schnitzler in der Sendung ein Experte zum Zweck „sachlicher Information“ zur Seite gestellt wird. Schnitzler lehnte empört ab – und schrieb einen Protestbrief an den neuen SED-Vorsitzenden Egon Krenz. Darin gelobte er Besserung und kündigte die „Zurücknahme der Polemik, Verzicht auf namentliche Angriffe bei gleichzeitiger sachlicher Abwägung von Leistungen, Erfolgen und Realitätssinn der BRD“ an.
Doch Egon Krenz ließ den verdienten Genossen fallen. Nach der 1519. Sendung vom 30. Oktober 1989 wurde „Der schwarze Kanal“ vom Sender genommen – und Schnitzler verschwand von den Bildschirmen. Im Januar 1990 leitete die nun in SED-PDS umbenannte Partei dann ein Parteiausschlussverfahren gegen Schnitzler ein, auch das ehemalige SED-Zentralorgan Neues Deutschland trat nach und nannte Schnitzler ein „Nessie-ähnliches Fossil“. Dem Parteiausschluss kam Schnitzler durch einen Austritt zuvor.
