Für Christine Hartmann und ihren Mann Lothar war die Neubauwohnung wie ein Lottogewinn. „Wir hatten vorher nur eine Zwei-Zimmer-Wohnung und uns fehlte Platz für die Kinder“, erzählt die 86-Jährige. Mit drei Kindern teilten sie sich zuvor zu fünft ein Schlafzimmer. Das Datum des Einzugs weiß sie noch genau: der 17. Oktober 1975. Bis heute bewohnen die Hartmanns etwa 70 Quadratmeter in der sechsten Etage eines Blocks im Chemnitzer Fritz-Heckert-Gebiet, haben die Veränderungen dort über all die Jahre miterlebt.
Während nach 1990 viele Bewohner den Plattenbauten den Rücken kehrten und ganze Blöcke abgerissen wurden, blieb das Paar. „Wir haben hier alles, was wir brauchen: Ärzte, Gastronomie, Einkaufsmöglichkeiten. Und in der Hausgemeinschaft hilft man sich gegenseitig“, sagt Christine Hartmann. „Wir hatten nie das Verlangen, woanders hinzuziehen.“
Am 5. Oktober 1974 wurde der Grundstein für das Wohngebiet „Fritz Heckert“ im damaligen Karl-Marx-Stadt gelegt. In acht Baugebieten wurden 943 Gebäude errichtet. Zu Hochzeiten lebten in dem Plattenbaugebiet 92.000 Menschen. Zum 50-jährigen Jubiläum wohnen nun noch rund 37.000 Chemnitzer in dem Neubaugebiet.
Plattenbauten in der DDR gegen Mangel an Wohnraum
Plattenbauten waren für die DDR-Führung der Schlüssel, um den chronischen Mangel an Wohnraum zu beheben. Der war freilich nicht neu. Schon seit der Industrialisierung und dem raschen Bevölkerungswachstum lebten viele Menschen in deutschen Städten auf engstem Raum. Hinzu kamen die Zerstörungen durch den Zweiten Weltkrieg. Ein großangelegtes Programm sollte den Wohnungsmangel beseitigen – mittels industriellem Wohnungsbau. Im damaligen Karl-Marx-Stadt wurde der Grundstein für das Heckert-Gebiet - benannt nach einem Mitbegründer der KPD – vor genau 50 Jahren gelegt. Es zählt damit zu den ältesten dieser Großsiedlungen.

172 Neubaugebiete in der DDR
Bis 1990 entstanden in der DDR 172 Neubaugebiete mit mindestens 2.500 Wohnungen, wie Buchautor, Bauingenieur und Stadtteilhistoriker Norbert Engst erläutert. Dazu zählten auch Leipzig-Grünau, Dresden-Gorbitz und Jena-Lobeda. Halle-Neustadt wurde gar als komplett eigenständige Stadt aus dem Boden gestampft. Im Heckert-Gebiet drehten sich die Kräne bis 1990. Sie hievten die Betonplatten für 32.500 Wohnungen aufeinander, die in Blöcken mit bis zu elf Geschossen emporwuchsen. Hinzu kamen Schulen und Kindergärten, Spiel- und Sportplätze, Kaufhallen und Polikliniken, kleine Kinos. Engst spricht von einer Stadt in der Stadt. Um 1990 lebten hier rund 92.000 Menschen – ein Drittel der Bevölkerung von Chemnitz. „Gemessen an der Einwohnerzahl war das Heckert-Gebiet damit das zweitgrößte innerstädtische Neubaugebiet in der DDR – nach Marzahn-Hellersdorf in Berlin.“
Endlich WC und Badewanne in der Wohnung
Zwar versprach die neue Wohnung Annehmlichkeiten wie ein eigenes Bad mit WC und Badewanne sowie eine warme Stube ohne beschwerliches Kohlenschleppen. Doch die Monotonie der Häuser brachte den Neubauten bald den Ruf als „Arbeiterschließfächer“ ein. Grün gab es anders als heute noch wenig zwischen den Blöcken und die ersten Bewohner hatten etliche Herausforderungen zu meistern.
Denn während sie schon in den neuen Wohnungen lebten, war in der Nachbarschaft häufig noch alles Baustelle, fehlte es anfangs an festen Straßen und Fußwegen. Zeitweise seien sie in Gummistiefeln aus dem Haus gegangen, erzählt Lothar Hartmann. Denn direkt am Haus sei nach einem Hangrutsch alles voller Lehm gewesen. Auch den Fahrstuhl, der sie zu ihrer Wohnung im Haus ganz oben bringt, gab es damals noch nicht - er wurde erst bei der Sanierung in den 2000ern ergänzt.

„Die Nachfrage nach solchen Wohnungen war bis zur Wiedervereinigung hoch und konnte nie ganz befriedigt werden“, erläutert Engst aus seinen Recherchen. Der 41-Jährige ist im Heckert-Gebiet aufgewachsen und lebt wieder hier. Die Miete habe je nach Wohnungsgröße bis zu 35 DDR-Mark gekostet und anders als heute nur einen geringen Anteil am Einkommen ausgemacht. Und es habe im Wohngebiet eine große soziale Durchmischung gegeben. Hier habe die Hilfskraft Tür an Tür mit dem Fabrikdirektor gewohnt, erzählt Engst, die Verkäuferin im selben Haus mit dem Arzt, der Facharbeiter in Nachbarschaft mit dem Akademiker.
Nach der Wende gingen viele weg
Das ändert sich massiv in den 1990er Jahren. Nach dem Zusammenbruch der Wirtschaft suchten viele Ostdeutsche ihr Glück in den alten Bundesländern. Wer blieb und Arbeit hatte, dem eröffnete sich nun die Chance auf das eigene Haus im Grünen oder auf eine Wohnung im frisch sanierten Altbau in anderen Stadtteilen. Hohe Arbeitslosigkeit sorgte derweil für soziale Spannungen. Die Monotonie und die enge Bebauung sei ein großes Manko gewesen, konstatiert Engst. „Da ist vielen angesichts der Probleme die Decke auf den Kopf gefallen.“ Die Plattenbausiedlungen werden zum Sorgenkind, der Leerstand wächst rapide.

Nicht nur im Heckert-Gebiet rücken nun wieder Bauarbeiter an. Dieses Mal bauen sie keine neuen Wohnungen. Dieses Mal reißen sie ab. 38 Millionen Euro fließen dafür aus dem Stadtumbauprogramm. In der Folge verschwindet ein Drittel aller Wohnungen, fast 11.000 an der Zahl. „Der Rückbau ist alternativlos gewesen“, räumt Engst ein. „Es war eine Aufwertung der Wohnsiedlung. Dadurch entstanden Freiräume und viel mehr Grün.“ Zugleich werden die meisten der verbliebenen Häuser saniert. Wohnraum wird zusammengelegt, um größere Wohnungen zu schaffen, Fahrstühle werden ergänzt.
Hausgemeinschaft trotzt den Umbrüchen
So auch bei den Hartmanns. Keine einzige Wohnung in ihrem Haus steht heute leer. Christine Hartmann führt auf den Balkon. Von hier geht der Blick ins hügelige Erzgebirgsvorland. Zwischen dem Grün ragen ein Kirchturm und eine Esse hervor. „Die wird bald abgerissen“, erklärt die Seniorin. Sie setzt sich an einen Tisch am Eingang zum Wohnzimmer und blättert in einem Ordner. Darin sind die Aktivitäten der Hausgemeinschaft dokumentiert. Über Jahrzehnte haben die Bewohner nicht nur gemeinsam gefeiert etwa an Geburtstagen. Auch auf die Kinder der Nachbarn wurde schon mal aufgepasst, wenn die ins Kino oder zum Vergnügen gegangen sind. Anfangs sind die Bilder schwarz-weiß, später zeigen sie die Feierlichkeiten in bunten Farben.
Doch hat diese gute Nachbarschaft den Umbruch überdauert? „Ja“, sagt Hartmann ohne zu zögern – zumindest für ihr Haus. Fünf Familien wohnten seit Anbeginn hier, sieben seien später zugezogen. Das Gros der Bewohner sei noch immer aktiv dabei – gießen die Blumen, wenn jemand im Urlaub ist, tauschen Rezepte und frisch gebackenen Kuchen, feiern gemeinsam runde Geburtstage, nehmen Pakete für Nachbarn an. Auch bei Trauerfeiern stehen sie sich gegenseitig bei. „Es passt einer auf den anderen auf. Ich finde das schön.“

Nach hohem Leerstand nun Wartelisten für Plattenbauwohnungen
Der schmerzhafte Umbruch war für manche Plattenbausiedlung offensichtlich eine Kur. So hat sich der einst hohe Leerstand deutlich verringert. Der Vermieter GGG, der 5.500 Wohnungen im Chemnitzer Süden bewirtschaftet, spricht aktuell von einem einstelligen Prozentbereich – nach mehr als 30 Prozent in den 1990er Jahren. Nach Angaben der Wohnungsgenossenschaft „Einheit“ mit aktuell etwa 5.300 Wohnungen ist der Leerstand von rund 29 Prozent zur Jahrtausendwende auf gut 5 Prozent gesunken. Die Rede ist von einer „sehr guten Vermietungssituation“. Vor allem bei großen Wohnungen, barrierefreien Wohnungen und Wohnungen mit besonderem Grundriss gebe es sogar Wartelisten. Und in den kommenden Jahren will die Genossenschaft weiter investieren.
Dabei ist auch manch früherer Bewohner wieder zurückgekehrt, wie Engst erzählt. Bezahlbare Mieten und eine gute Infrastruktur mit Schulen, Ärzten und Einkaufsmöglichkeiten seien Pluspunkte. „Wir haben hier alles außer Friedhof und Gymnasium“, konstatiert der 41-Jährige. „Das Image ist nach wie vor verbesserungswürdig, aber ich kenne hier keine sozialen Brennpunkte.“
Plattenbauten im Visier des Denkmalschutzes
Inzwischen drehen sich wieder Baukräne – nicht zum weiteren Abriss, sondern um neuen Wohnraum zu schaffen. So etwa in Nachbarschaft der Albert-Einstein-Grundschule. Hier baut ein Investor ein Wohnhaus mit mehr als 100 barrierefreien Zwei-Zimmer-Wohnungen, die Ende 2025 fertig sein sollen. Nicht weit davon entfernt hat die Gruppe vor einigen Jahren eine fünfstöckige „Seniorenresidenz“ mit 147 Pflegeplätzen gebaut. Das Unternehmen aus Niedersachsen bewirbt den Standort mit einem „lebendigen Stadtteil“, der Nähe zu einem großen Einkaufszentrum und einem guten Anschluss an den öffentlichen Nahverkehr.
So hat sich überregional der Blick auf Plattenbauten aus DDR-Zeiten geweitet. Für manche interessiert sich sogar der Denkmalschutz. In Rostock-Evershagen wurde ein Terrassenhaus unter Denkmalschutz gestellt ebenso wie eine Hochhaussiedlung in Neubrandenburg, ein Eckhaus in Bernau bei Berlin und ein Wohnhaus in Dresden-Gorbitz sowie Teile der in den 1960er-Jahren geplanten sozialistischen Großstadt Halle-Neustadt. Sie gelten heute als Zeugnisse der DDR-Alltagskultur.
