Ganz früh am Morgen, wenn Berlin noch schläft, stehen ein paar Handvoll Verrückte noch weit vor vier Uhr auf und machen sich auf den Weg in die Mitte der Stadt. Sie kommen aus Erkner, aus Pankow, aus Köpenick. Mit dem Rad, dem Roller, dem Auto oder zu Fuß. Ihr Erkennungsmerkmal: eine Fotokamera über Schulter, denn es erwartet sie ein besonderer Spaziergang, ein Augen-Spektakel.
Auf den Stufen des Doms am Gendarmenmarkt wartet Mulinarius schon auf seine spezielle Wandergruppe. Mulinarius heißt in seinem richtigen Leben als BVG-Mitarbeiter Matthias Müller. „Aber mit dem Namen sind alle E-Mailbenutzernamen längst belegt“, sagt er lachend. Seit Kurzem hat er die spanische Version von „Müller“ sogar als Künstlernamen im Perso stehen. Der 56-Jährige organisiert seit zehn Jahren den wohl schönsten Morgenspaziergang der Hauptstadt. Einfach so, ohne Eintritt, kein Ticket, keine Anmeldung ist nötig. Wer nach der Ankündigung auf Instagram am Treffpunkt dabei ist, kann mitgehen und dabei sein, wenn an den schönsten Foto-Hotspots, die Mulinarius vorher genau auskundschaftet, die Sonne Stein und Asphalt Berlins wachküsst.

An diesem Mittwochmorgen sind an die 50 Menschen gekommen. Es ist noch kühl, die Stadt ist so still, wie sonst zu keiner anderen Zeit. Die Route soll vom Gendarmenmarkt über den Hausvogteiplatz führen, wo eine Tänzerin im ersten Licht des Tages zwischen den Spiegeln des Denkzeichen für dem Modestandort, der sich hier einst befand, performt. Über das Auswärtige Amt, die Fischerinsel,Nikolaiviertel bis zur James Simon Galerie auf der Museumsinsel gehen die Sonnenjünger auf der Suche nach dem besten Motiv. Kein Tourist, kein Berliner stört ihre Blicke.
Das ist die Stunde der Füchse und der Krähen, die Stunde, die Mulinarius seit vielen Jahren zum Fotografieren nutzt. Als Ausgleich zum stressigen Job, in der Kommunikationsabteilung der BVG. Irgendwann beginnt er, seine Fotografien auf Instagram zu posten. Irgendwann beginnt er, Fremde einzuladen, ihn bei seinen #SchoeneMorgenWalks zu begleiten.
„Beim ersten Mal kamen fünf Leute, beim zweiten Mal kamen zehn“, erzählt er. Das Highlight war im letzten Jahr ein Fotoshooting bei Sonnenaufgang auf dem Fernsehturm. Mulinarius hatte es geschafft, die 140 Interessenten rechtzeitig dort hinauf zu lotsen. Ein anderes Mal schipperte er seine Wandergemeinde mit einem Solarkatamaran drei Stunden durch das Herz Berlins.

Wer steht so früh auf und kommt zu den Touren? „Leute, die gern fotografieren, aber auch Leute, die einfach gern den besonderen Moment mit anderen teilen wollen“, sagt Mathias Müller. Anja ist schon öfter dabei gewesen, sie kommt überhaupt nur wegen der Gruppendynamik aus dem Bett, sagt sie. Thilo, der uns einige seiner Fotos zur Verfügung stellt, war schon öfter dabei. Ein anderer Teilnehmer wiederum war eh noch wach, als er den Post auf Instagram sah. Er hat sich spontan auf den Weg gemacht. Und dann stehen sie da, fast andächtgig und schauen wie die Sonne hinter dem Humboldtforum strahlend aufgeht. Noch ist die Stadt nicht laut und wild, sondern stiller Stein.

Wer dann irgendwann zur Arbeit muss, geht einfach, winkt und lässt sich von den Straßen verschlucken. Der Moment aber bleibt, in der Timeline, in der Erinnerung. „Ich will der Community einfach etwas zurück geben“, sagt Mathias, der als Gleisbauer bei der BVG anfing und jetzt Influencer im Unternehmen betreut. Manchmal braucht es nur einen, der den Impuls für etwas Besonderes gibt, Mulinarius ist so ein Impuls.

Ob er nicht Angst hat, dass ihm die Events irgendwann über den Kopf wachsen? „Ich weiß nicht mal, ab wie vielen Menschen man eine Demo anmelden müsste“, lacht Mulinarius. Aber so viele schaffen es dann doch nicht, mitten in der Woche so früh aufzustehen. Schade eigentlich. Dieser frisch Blick auf Berlin mitten im Alltag öffnet neue Perspektiven. Für die nächste Einladung zu einem der Foto-Spaziergänge immer mal den Instagram-Kanal #SchoeneMorgenWalks besuchen.
