Auch in Berlin

So zocken kriminelle Banden aus dem Ausland deutsche Krankenkassen ab

Für den Betrug werden marode Firmen oder „Scheinfirmen“ genutzt. Jährlich werden Millionen ergaunert. Es gibt deutschlandweit Fälle. In Berlin, in Sachsen, in Nordrhein-Westfalen.

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Mit aus dem Ausland gesteuerten Scheinfirmen werden die deutschen Sozialkassen abgezockt.
Mit aus dem Ausland gesteuerten Scheinfirmen werden die deutschen Sozialkassen abgezockt.Bihlmayerfotografie/imago

Die Schäden gehen weit in die Millionen. Durch Scheinfirmen, die Betrüger aus dem Ausland führen, und fingierten Arbeitsverträgen, die nur ein Ziel haben: systematisch Sozialleistungen zu ergaunern und die deutschen Krankenkassen abzuzocken. Durch kriminelle Banden entstehen jährlich Schäden in Millionenhöhe. Es gibt deutschlandweit Fälle. In Berlin, in Sachsen, in Nordrhein-Westfalen. Das geht aus Dokumenten und Informationen hervor, die rbb24 vorliegen.

Das Rechercheteam von rbb24 berichtet von einem Notar in Berlin, der den Wechsel des Gesellschafters und Geschäftsführers einer Immobilienfirma beurkundete. Nur: Die fragliche Firma war überschuldet, ohne erkennbaren Geschäftsbetrieb – und der neue Gesellschafter, ein polnischer Geschäftsmann, der bisher noch nie als Unternehmer auftrat, verschwand kurz nach Beurkundung auf Nimmerwiedersehen. Ein Strohmann, der nun für alle Schulden haftete, aber von den Gläubigern nicht mehr aufzuspüren war.

Bandenmäßiger Betrug, der die Solidargemeinschaft schädigt

Laut rbb24 meldeten kriminelle Hintermänner des untergetauchten Strohmanns über die Firma rund 40 Scheinbeschäftigte bei neun Krankenkassen an – mit gefälschten Arbeitsverträgen. Keiner davon arbeitete wirklich, etliche Personen hielten sich im Ausland auf oder waren gar nicht auffindbar. Sozialbeiträge werden keine abgeführt – über Jahre hinweg. Das Perfide: Trotzdem haben die angeblich Beschäftigten Anspruch auf Leistungen aus der Sozialversicherung: Kranken- und Arbeitslosengeld.

„So was passiert laufend. Man kann sagen, dass das inzwischen ein Mengenphänomen ist“, sagt Joachim Heitsch, Berliner Fachanwalt für Insolvenzrecht. Nach Erkenntnissen des rbb nutzen die Täter, die Teil größerer krimineller Netzwerke sind, dafür marode Firmen oder gründen sogenannte „Scheinfirmen“, die nicht mehr als Briefkastenfirmen sind. Die Unternehmen werden oft von sogenannten „Strohmännern“ aus Osteuropa geführt, die zwar formal haften, in der Regel aber vermögenslos sind.

Der GKV-Spitzenverband, der bundesweite Verband der Krankenkassen, spricht von einem „gezielten, bandenmäßigen Betrug, der die Solidargemeinschaft schädigt“, von einem „relevanten Problem für das deutsche Gesundheitswesen“. GKV-Sprecher Florian Lanz fordert Konsequenzen: „Wir reden hier von etlichen Millionen Euro Schaden jährlich. Es braucht dringend einen besseren Informationsaustausch zwischen Krankenkassen, Rentenversicherung und Arbeitsagenturen, um solche Strukturen frühzeitig zu erkennen.“

Besonders Krankenkassen geraten bei dieser Betrugsmasche unter Druck. Ralf Selle, Beauftragter zur Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen bei der AOK Nordost, sagt im rbb-Interview: „Diese Scheinfirmen sind ein Einfallstor in das deutsche Sozialversicherungssystem und werden vermutlich im größeren Umfang genutzt.“

Keiner prüft die kriminellen Scheinfirmen

Die gesetzlichen Krankenkassen seien auf die Angaben der Arbeitgeber angewiesen, erklärt Selle. Kaum zu glauben: Eigene Prüfmechanismen gibt es nicht. „Die Krankenkassen müssen davon ausgehen, dass die gemeldeten Daten korrekt und rechtmäßig sind – eigene Kontrollen sind nicht vorgesehen.“ Das führt dazu, dass Menschen über Monate oder sogar Jahre versichert bleiben und Leistungen beziehen, obwohl sie nicht arbeiten und keine Beiträge für sie eingezahlt werden.

GKV-Sprecher Florian Lanz warnt vor einem „gezielten, bandenmäßigen Betrug, der die Solidargemeinschaft schädigt“.
GKV-Sprecher Florian Lanz warnt vor einem „gezielten, bandenmäßigen Betrug, der die Solidargemeinschaft schädigt“.GKV-Spitzenverband

Die deutsche Bürokratie begünstigt diesen Betrug. Bleiben die Zahlungen aus, mahlen die Mühlen langsam. Erst folgen Mahnungen, dann Pfändungsversuche und irgendwann dann ein Insolvenzantrag. „Dieser Prozess kann sich – je nach Fall – über viele Monate hinziehen“, so Selle. Manchmal dauert es sogar Jahre.

Ein strukturelles Problem sieht Selle im mangelnden Datenaustausch zwischen den Trägern der Sozialversicherung. „Der Austausch ist dringend notwendig und wichtig“, sagt er. Gesetzliche Hürden verhinderten bislang einen effektiven Abgleich zwischen Krankenkassen, Jobcentern und Rentenversicherung. ■