Alkmene, Herzvater, Klaräpfel

Der Geschmack der Kindheit: Hier gibt’s in Brandenburg noch alte Äpfel

Alte Apfelsorten findet man überall in der Mark. Die wachsen etwa an Alleebäumen, die teilweise schon über 100 Jahre in der Landschaft stehen.

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Der Geschmack der Kindheit: Der Weiße Klarapfel wurde 1852 von der Baumschule Wagner aus Riga in Lettland nach Frankreich an die Baumschule Leroy in Angers geliefert und verbreitete sich von dort aus in ganz Europa.
Der Geschmack der Kindheit: Der Weiße Klarapfel wurde 1852 von der Baumschule Wagner aus Riga in Lettland nach Frankreich an die Baumschule Leroy in Angers geliefert und verbreitete sich von dort aus in ganz Europa.Frank Sorge/imago

Der Geschmack meiner Kindheit sind Klaräpfel. Leicht säuerlich, fest im Biss. In den Supermärkten und Gemüseläden findet man Klaräpfel, wie viele andere Sorten auch, überhaupt nicht mehr, dafür an vielen Bäumen: Alte Apfelsorten wachsen überall in Brandenburg. Sie stehen für Individualität statt Massenware – und haben einige Vorzüge gegenüber Industrieäpfeln.

Als Rainer Still vor gut sechs Jahren einen alten Bauernhof in Krams im Landkreis Prignitz übernommen hat, gehörte auch eine gut 40 Jahre alte Obstwiese mit rund 200 Bäumen dazu. Fast 20 Jahre sei an ihr nichts gemacht worden – dabei gibt es hier zahlreiche alte Schätze zu entdecken. Sie heißen „Alkmene“, „Herzvater“, „Geheimrat Breuhahn“ oder „Aurelia“: Alte Apfelsorten, die im Handel nicht mehr zu bekommen sind. Höchstens ein paar Hofläden führen sie noch im Angebot. Doch nicht wenige Obstbauern sind überzeugt: Es lohnt sich, sie zu erhalten – auch wenn sie unter Marktbedingungen keine Chance haben.

Rainer Still erntet zwei bis drei Tonnen pro Jahr

Für die Obstwiese von Rainer Still kam die Rettung für die alten Apfelbäume fast in letzter Sekunde. Nach der Wiedervereinigung habe es Fördergelder für die Entsorgung von Obstbäumen gegeben. Über 100 Kirschbäume seien bereits von der Wiese verschwunden gewesen, die Äpfel- und Birnbäume konnte er größtenteils erhalten. „Früher habe ich an Motorrädern geschraubt“, erzählt Still. Im Ruhestand hat er die Obstplantage gekauft, erntet seitdem gut zwei bis drei Tonnen Äpfel im Jahr. Die meisten werden zu Saft oder Wein verarbeitet, nur wenige taugen als Tafelobst.

Still kümmert sich gemeinsam mit anderen Obstbauern darum, die alten Bäume zu pflegen. Sie haben sich zum „Obstnetz Prignitz“ zusammengetan, tauschen Wissen sowie Erfahrungen aus und helfen sich gegenseitig. „Wir sind ein paar Verrückte“, meint Urte Delft aus dem nahe gelegenen Barenthin. Die Ingenieurin für Landschaftsnutzung und Naturschutz kennt sich mit Apfelsorten aus, hilft bei der Bestimmung. Die Anforderungen im Handel seien hoch, man könne sie kaum erfüllen.

So finden nur wenige der alten Apfelsorten ihren Weg zu den Kunden, denn die erwarten nicht nur ein möglichst einheitliches Aussehen und konstanten Geschmack, sondern wollen sich auch darauf verlassen, dass es immer genügend Exemplare von einer Sorte gibt – doch all das ist bei den alten Sorten meistens nicht garantiert. „Alte Sorten sind viel individueller“, sagt Urte Delft. „Da schmeckt jeder anders.“ In den Supermärkten gebe es von Nord bis Süd überall das gleiche Angebot. Doch gerade das Spezielle mache das Streuobst aus, ist die Obstexpertin überzeugt.

Obstbaumexpertin Urte Delft und Hobby-Landwirt Rainer Still begutachten einen der Äpfel, die auf seiner Obstplantage mit Alten Apfelsorten in der Prignitz reifen.
Obstbaumexpertin Urte Delft und Hobby-Landwirt Rainer Still begutachten einen der Äpfel, die auf seiner Obstplantage mit Alten Apfelsorten in der Prignitz reifen.Oliver Gierens/dpa

Auch Anja Hübner von der Hofmanufaktur im benachbarten Dannenwalde hat eine Streuobstwiese angelegt, um alte Apfelsorten zu erhalten – auch aus ökologischen Gründen, wie sie im Gespräch erzählt. 2001 ist sie mit ihrer Familie auf den Hof in der Prignitz gezogen, hat zahlreiche Bäume angepflanzt, um das Genmaterial der alten Sorten zu erhalten. „Ökologische Vielfalt ist wichtig, auch wegen des Klimawandels“, ist Hübner überzeugt. Man könne ja nicht wissen, welche Auswirkungen die Klimaveränderungen auf den Apfelanbau haben werden, etwa durch zunehmende Wetterkapriolen oder eine wachsende Belastung durch Schädlinge.

Um alte Apfelsorten kümmern sich aber nicht nur die Obstbauern vor Ort. Die Obstbauversuchstation in Müncheberg (Märkisch-Oderland) pflegt und erhält nach eigenen Angaben über 800 verschiedene Sorten Obst, davon 600 Apfel- und 200 Birnensorten, manche davon jahrhundertealt. Tobias Hahn ist hier der Technische Leiter. Alte Apfelsorten finde man überall in der Mark, sagt er. Die wachsen etwa an Alleebäumen, die teilweise schon über 100 Jahre in der Landschaft stehen. Auch Selbstversorger-Gärten, Apfelbaum-Enthusiasten oder Kleinstbauern habe es immer gegeben. „Traditionelle Apfelsorten kann man überall treffen“, sagt Hahn.

Alte Äpfel: „Ein Stück Romantik oder Traditionsbewusstsein“

Wie viele alte Apfelsorten in Brandenburg existieren, sei schwer zu beziffern. Rund 1500 Sorten schätzt der Experte, aber in Gänze sei das nirgendwo erfasst. Alte Sorten, auf die man immer wieder treffe, gebe es rund 30 bis 40. Die Versuchsanstalt östlich von Berlin ist Teil der 2007 gegründeten Deutschen Genbank Obst, die ähnlich wie eine Bibliothek genetisches Material alter Obstsorten insbesondere aus Deutschland langfristig erhalten und zugänglich machen will.

Traditionelle Apfelsorten seien für viele Menschen „der Geschmack der Kindheit“, sagt Hahn. Das sei oft „ein Stück Romantik oder Traditionsbewusstsein“. Aber auch ernährungsphysiologisch seien die Sorten wertvoll. Manche Gerb- oder Bitterstoffe sowie Phenole, also Säuren, die für das typische Aroma sorgen, seien in modernen Apfelsorten oft nicht mehr enthalten. Der Ernährungswert alter Sorten werde daher oft als besser und höher eingeschätzt.

Dass kleinere Initiativen wieder Streuobstwiesen anlegten, sei in den letzten Jahren ein konstanter Trend. Aber eine Rückkehr der alten Sorten in den Erwerbsobstbau sieht Hahn nicht – und dies werde aus seiner Sicht auch nicht zunehmen. „Zugegriffen wird in der Kaufentscheidung auch über das Auge“, ist er überzeugt. Für Most, Obstbrände, Cider oder Weine seien hingegen Eigensorten mit eigenem Aroma oft sogar besser verwertbar.

Dafür erhalten Obstbauern ein wenig Unterstützung vom Land: Über die Richtlinie zur Förderung von Agrarumwelt- und Klimamaßnahmen, mit der die Biodiversität und der Bodenschutz auf landwirtschaftlich genutzten Flächen verbessert werden soll, gibt es nach Angaben des Landesumweltministeriums 8,50 Euro je gepflegtem Streuobstbaum. Auch aus dem Kulturlandschaftsprogramm (Kulap) ist laut Tobias Hahn eine Förderung möglich.

Die Obstplantage von Hobby-Landwirt Rainer Still mit Alten Apfelsorten in Krams. Rainer Still hat etwa 200 Bäume auf einer Streuobstwiese vor dem Verfall gerettet.
Die Obstplantage von Hobby-Landwirt Rainer Still mit Alten Apfelsorten in Krams. Rainer Still hat etwa 200 Bäume auf einer Streuobstwiese vor dem Verfall gerettet.Oliver Gierens/dpa

Ein Problem der alten Sorten hat sich allerdings gerade in diesem Jahr gezeigt: Die Ernte ist vielfach wenig konstant und hängt stark von der Wetterlage ab. 35 Quittenbäume hat Rainer Still auf seinem Hof. „Keine einzige Quitte habe ich diesmal daran gefunden“, berichtet der Obstbauer. Und bei den rund 150 Kirschbäumen von Urte Delft gibt es in diesem Jahr rund 90 Prozent Ausfälle. Der späte Frost im Frühjahr habe viel zerstört, berichten die Prignitzer Obstbauern. Allerdings vermarkten alle drei ihr Obst nur direkt und im Nebenerwerb – sonst hätten sie jetzt ein großes Einnahmeproblem.