Quadratmeter für Quadratmeter suchen Spezialisten das Erdreich in Oranienburg nach Bomben ab. Und das schon seit Jahren. Experten vermuten, dass in keiner anderen deutschen Stadt noch so viele Weltkriegsbomben mit gefährlichen chemischen Langzeitzündern im Boden schlummern wie in der Kreisstadt nördlich von Berlin. Die Spezialfirmen haben noch eine Menge vor sich: Etwa 16 Prozent der rund 40 Quadratkilometer sind – wie es offiziell heißt – aus dem Kampfmittelverdacht entlassen. Der Rest steht noch aus. Es ist eine Mammutaufgabe.
Kettenreaktion mit mehreren Bombenexplosionen möglich
Etwa 250 Weltkriegsbomben liegen Schätzungen zufolge noch im Boden. „Fachleute sagen, es ist keine Frage, ob, sondern wann die Bomben explodieren“, sagt Stefanie Rose, Dezernentin für Bürgerdienste im Oranienburger Rathaus. Auch eine Kettenreaktion wäre möglich. „Durch die Vibration bei einer Detonation könnte auch eine in der Nähe gelegene Bombe detonieren“, erklärt Rose. Die Dezernentin ist auch für das Amt für Brandschutz zuständig. Im dortigen Bereich Kampfmittel koordinieren Mitarbeiter die Suche in der Stadt.
Bomben explodierten von selbst
In der Vergangenheit kam es bereits fünfmal zu Selbstdetonationen: 1991 wurden ein Mann und ein Mädchen verletzt, als eine 250-Kilo-Bombe in einer Vorortsiedlung unter einer gepflasterten Straße explodierte. „Auch im Lehnitzsee gab es 1993 eine Explosion“, sagt Rose. Dabei sei aber niemand zu Schaden gekommen. Die anderen Explosionen gingen für Menschen ebenfalls glimpflich aus, es gab „nur“ Sachschäden.
Auf Oranienburg wurden laut Stadtverwaltung zum Ende des Krieges mehr als 20.000 Bomben abgeworfen – hauptsächlich 250 und 500 Kilogramm schwer. Die Stadt galt als wichtiges Rüstungszentrum. Besonders auf die Auer-Werke hatte man es abgesehen, weil sie im Verdacht standen, Teile für eine Atombombe herzustellen. Auch die Heinkel-Flugzeugwerke und der Bahnhof waren Angriffsziele. Wegen der besonderen Bodenverhältnisse landeten die Bomben oft so im Boden, dass sie nicht detonierten.
Bomben in Kleingärten, unter Hortgebäude und Wohnhäusern
Die Aufräumarbeiten begannen noch während des Krieges. In der DDR wurden zwischen 1965 und 1990 mehr als 200 Blindgänger beseitigt. „Seit 1990 haben wir auch über 200 Bomben geborgen. Ich kann mich an eine erinnern, bei der der Zünder nicht mehr intakt war“, sagt Stefanie Rose. Mehrfach wurden Bomben an besonders heiklen Stellen gefunden: unter einem Hauptheizkessel der Stadtwerke, einem Hortgebäude, unter Wohnhäusern und selbst in Kleingärten.
Regelmäßig Sperrungen und Evakuierungen
Das explosive Erbe macht das Leben komplizierter: Immer wieder sind Straßen oder Flächen gesperrt. Wenn eine Entschärfung ansteht, müssen oft Tausende Menschen evakuiert werden, Straßen und Bahnstrecken sind dicht. Und die Bomben verursachen mehr Bürokratie: „Man bekommt in Oranienburg nur eine Baugenehmigung, wenn eine Kampfmittelfreiheitsbescheinigung vorliegt“, sagt Stefanie Rose.

Das sei nicht nur für private Bauherren aufwendig, sondern halte auch Investoren ab. Gewerbeflächen müssten vor einer Bebauung ebenfalls untersucht werden. Selbst wenn sich die Art der Nutzung für eine Immobilie ändert, zum Beispiel aus einer Drogerie ein Restaurant werden solle, müsse ein Antrag beim Kampfmittelbeseitigungsdienst gestellt werden, der dann entscheide, ob das Grundstück untersucht werden muss oder nicht.
„Krasse Vorsichtsmaßnahme“
„Der eine oder andere Bewohner wird sagen: Das ist schon eine krasse Vorsichtsmaßnahme“, sagt Rose. Und manche Leute in der Stadt könnten sich auch nicht vorstellen, dass Bomben, die 80 Jahre nicht hochgegangen seien, plötzlich detonieren könnten. Doch: „Wer will denn seine Hand dafür ins Feuer legen? Niemand!“, betont die Mitarbeiterin der Verwaltung.
Die Beseitigung des Erbes kostet: „Jährlich trägt die Stadt Oranienburg etwa zwei Millionen Euro. Das Geld fehlt an anderen Stellen“, sagt Stefanie Rose. Mehr Unterstützung vom Land kam 2019: Oranienburg wurde sogenannte Modellregion. Mehr Kosten wurden übernommen, und der Kampfmittelbeseitigungsdienst bekam mehr Kompetenzen und Personal, um die Blindgänger schneller aufzuspüren und zu entschärfen. „In Oranienburg setzte der KMBD mehr Mitarbeiter ein, was uns als Stadt natürlich auch hilft.“ Die systematische Suche sei dadurch noch verbessert worden.
„Jedes Jahr gucken wir, welche Flächen wir als Stadt anfassen müssen, zum Beispiel im Zuge von Baumaßnahmen“, erklärt Stefanie Rose. Außerdem wurde auf Grundlage eines Gutachtens von 2008 das Stadtgebiet in verschiedene Gefahrenlagen eingeteilt. Bereiche, in denen es besonders viele Bombeneinschläge gab und in denen viele Menschen leben, haben oberste Priorität.
Corona-Pandemie veränderte Suche
Die Corona-Pandemie habe dem Plan einige Jahre einen Strich durch die Rechnung gemacht, sagt Rose. „Besonders dicht besiedelte Gebiete konnten nicht abgesucht werden, da wir im Falle eines Bombenfundes nicht hätten evakuieren können.“ Es sei wegen der Pandemie nicht möglich gewesen, viele Menschen auf engem Raum unterzubringen. Die Stadt habe die Zeit aber dennoch genutzt und weniger dicht besiedelte Bereiche absuchen lassen.
Aus Modellregion wird Kompetenzregion
Seit Ende 2024 ist das Projekt Modellregion offiziell beendet. Der Kampfmittelbeseitigungsdienst ist laut einer Sprecherin des zuständigen Zentraldienstes der Polizei aber weiterhin in Oranienburg im Einsatz. Innenministerin Katrin Lange spricht von einem „Erfolgsprojekt“. Die Arbeit des KMBD in Oranienburg dürfe nun nicht wieder zurückgefahren werden. „Vielmehr sollte das Modell in eine Kompetenzregion überführt werden“, erklärte Lange Ende Februar. Ziel sei es, die Erkenntnisse weiter zu vertiefen und anderen Regionen verfügbar zu machen, die ebenfalls mit Kampfmitteln belastet seien, erläutert die Sprecherin Josefin Roggenbuck.