Ein Turm aus Steinen
Irgendwo an einer Straße in Namibia steht ein Turm aus drei Steinen. Die Steine, auf denen die drei Namen Markus, Stephanie und Alexandra stehen, markieren den Ort, an dem für Antonia Joschko aus Berlin vor zehn Jahren ein anderes Leben begann. „Alles, was einem im Leben Sicherheit gab, ist von einem Moment auf den anderen weg.“, sagt Antonia. „Die Menschen, die in meinem Leben da sein sollten, sind es nicht mehr.“
Der Unfall
Antonia Joschko hat vor fast zehn Jahren an einem Tag kurz nach Weihnachten in der namibischen Wüste bei einem Autounfall ihre gesamte Familie verloren. Sie ist 16 Jahre alt, als sie als Einzige aus ihrer Familie den schrecklichen Autounfall überlebt.
Die Familie Joschko, ein Ehepaar aus Berlin, und ihre zwei Töchter, ist mit einem weißen Ford Ranger auf einer verdichteten Salzpiste unterwegs. Gegen 17 Uhr auf dem Rückweg nach Swakopmund kommt ihnen auf der eigenen Fahrbahn an einem Hügel ein Toyota-Geländewagen mit stark überhöhter Geschwindigkeit entgegen.
Der Fahrer hat keinen gültigen Führerschein und wurde wenige Kilometer vor dem Unfall wegen zu schnellen und rücksichtslosen Fahrens angehalten und von der Polizei verwarnt. Der Polizist, der ihn angehalten hat, scheint nicht nach dem Führerschein gefragt zu haben. Bei dem Versuch, vor dem Hügel drei Autos auf einmal zu überholen, rast Jandré D. auf der falschen Fahrbahnseite mit 140 km/h in das Auto der Deutschen. Antonias ganze Familie stirbt bei dem Unfall. Auch im Auto des Unfallverursachers sterben drei Menschen, nur der Fahrer und Antonia überleben.
Bis zuletzt hält Antonia die Hand ihrer älteren Schwester. Auf dem Weg ins Krankenhaus wird ihr bewusst, dass niemand außer ihr diesen Unfall überlebt hat. „Die Entscheidung, weiterzumachen, fiel noch im Unfallauto“, sagt Antonia heute. „Die einzige Chance auf ein schönes Leben ist schließlich, dass man es versucht.“
Zehn Jahre danach
Doch wie lebt man weiter, wenn alles Bekannte verloschen ist? Kann es gelingen, nach diesem Trauma ein glückliches Leben zu führen? Freunde der Familie und Verwandte sind für Antonia da, doch das selbstverständliche Aufgefangen sein an schlechten Tagen, der Rat der Familie, der fehlt und wird weiter fehlen.
„Ich vermisse meine Eltern und meine Schwester sehr, sehr regelmäßig. Wenn es um emotionale Entscheidungen geht, zum Beispiel“, sagt Antonia. Die alltäglichen Dinge, „das Zusammensein, wenn wir morgens am Wochenende beim Frühstücken Musik angemacht haben.“ Moment wie der, wenn alle nach bestandener Prüfung freudig ihre Eltern anrufen, schmerzen.
Antonia ist vom 16-jährigen Teenager zur jungen Frau geworden. Sie hat Lebensentscheidungen ohne ihre Eltern getroffen, hat Hebammenwissenschaften studiert, als Hebamme gearbeitet. Gerade studiert sie für das Masterstudium im Fach Globale Gesundheit in Barcelona. Und immer wieder stellt sie sich ihrem Schicksal und kämpft im Prozess gegen den Unfallverursacher in Namibia um die Wahrheit.

Der Prozess
Der Prozess gegen den Unfallverursacher Jandré D. zog sich in Namibia über fast zehn Jahre hin. Erst im August 2024 wird Jandré D. des sechsfachen Mordes schuldig gesprochen und zu 15 Jahren Haft verurteilt. Das Urteil sorgte in Namibia für Aufsehen, in dem Land, in dem es jedes Jahr viele tödliche Raserunfälle gibt, ist es der erste Fall, der mit einer so eindeutigen Verurteilung wegen Mordes endet.
Immer wieder ist Antonia zu den Prozesstagen nach Namibia geflogen. Mit dem Unfallverursacher ist sie bis heute durch die Tat verbunden. Auch wenn er es nicht sein sollte, ist er weiter Teil ihres Lebens. „Nach dem Unfall lagen wir beide auf dem Boden neben den Wracks, er starrte mich bedrohlich an“, erinnert sich Antonia. Heute sei er es, der im Gerichtssaal den Blick abwende. Ein kleines Stück Macht über ihr Schicksal, das sich Antonia zurück erobert hat.
Bis heute zeigt Jandré D., der zu den Prozesstagen immer demonstrativ im Riesen-SUV kam, keine Reue, findet kein aufrichtiges Wort der Entschuldigung. Stattdessen lässt er seine Anwälte in Berufung gegen sein Urteil gehen, verbreitet weiter Lügen über den Tathergang, an den er sich wahlweise nicht erinnern kann, oder die Schuld Antonias Vater zuschiebt.
Auch wenn der Strafprozess zu einem vorläufigen Ende kam, läuft parallel seit 7 Jahren auch ein Zivilprozess vor dem High Court in Windhoek, in dem Antonia als einzige Überlebende die Klägerin ist. Bislang hat hier nicht einmal eine mündliche Verhandlung stattgefunden. „Der Beklagte und seine Familie tun alles, um das Verfahren zu verzögern“, sagt Antonia. Doch im März sollen endlich die ersten Zeugen und Sachverständigen gehört werden.
Das Gericht hat Antonia aufgegeben, bis dahin 50.000 Euro als Sicherheit zu hinterlegen für den Fall, dass die Klage abgewiesen wird; das Geld soll die Prozesskosten des Beklagten abdecken. Weitere 50.000 Euro werden benötigt, um Anwälte in Namibia zu bezahlen, Zeugen, wie beispielsweise Antonias Therapeutin, oder Unfallsachverständige einzufliegen und für die Dauer der Beweisaufnahme unterzubringen. „Wo soll ich soviel Geld hernehmen?“, fragt Antonia. In einer Spendenkampagne auf betterplace.org hat Antonia schon einen Teil der Summe sammeln können. Die Chancen, den Prozess zu gewinnen, stehen gut.
Seit Antonia allein und ohne familiäres Netz durch ihr Leben gehen muss, habe finanzielle Sicherheit einen anderen Stellenwert für sie bekommen, sagt sie.

Die Fortsetzung der Schadenersatzklage ist auch deswegen wichtig, weil Antonia bei einer Niederlage oder wenn sie die Vorschüsse und die Sicherheit nicht zahlen kann, sämtliche Kosten des bisherigen Verfahrens tragen müsste. Aufgeben ist also keine Option. „Ich ziehe es aber vor allem durch, weil ein Urteil einen weiteren Teil zur Gerechtigkeit beitragen würde“, sagt Antonia. Ihrer Familie ist sie das schuldig.
Ein glückliches Leben?
Jeden Tag sind die drei in ihrem Leben präsent. Besonders auf Reisen oder bei schönen Erlebnissen denkt Antonia an die Menschen, die all das Schöne nun nicht mehr erleben dürfen. „Ich hoffe, ihr bekommt einen Teil davon mit“, sagt sie ihnen dann. An besonderen Tagen wie Geburtstagen ihrer Eltern oder der Schwester versucht Antonia bewusst, etwas Schönes zu erleben, um ihrer Familie im Positiven zu gedenken.
Sie sind fort und doch immer da. In der Trauer gibt es auch Lachen. Als Hebamme kann Antonia die schweren Momente mit all ihrer Tiefe besser erfassen. Und gleichzeitig das neue Leben jedes Mal aufs Neue bestaunen und dankbar sein. Ein glückliches Leben führen, trotz oder wegen des Verlusts: ja, das geht, wenn man es nur immer wieder versucht, weiß Antonia. ■