In London versteckt, in Amsterdam verdrängt, in Zürich unsichtbar – doch in Berlin ist sie nicht zu übersehen: die nackte Armut, direkt auf den Straßen, mitten in den Szenevierteln, im Zentrum der Hauptstadt. Wer gerade aus dem Urlaub zurückkehrt, ist schockiert: Eben noch saubere Boulevards in Paris, geordnete Plätze in Wien – und dann, zurück in Berlin, gleich am Stadtrand der erste Mann, verwahrlost, mit übervollem Einkaufswagen, verloren auf dem Standstreifen der Autobahn. Willkommen daheim!
Warum ist das Elend in Berlin so sichtbar wie nirgendwo sonst in Europa? Armutsbeauftragter Thomas de Vachroi (65) kennt die Antwort: „Berlin toleriert das viel stärker.“ Er nennt mehrere Gründe dafür.
Die Gründe für das Elend in der Metropole
Der erste ist die brüchige Basis: Schon West-Berlin lebte von Subventionen. Nach der Wende kam Ost-Berlin mit seiner zerstörten Wirtschaft dazu. Bis heute liegt die Arbeitslosenquote über dem Bundesdurchschnitt, die Löhne sind mies, die Mieten explodieren. Viele landen auf der Straße.
Der zweite Grund: Berlin zieht alle möglichen Leute an – nicht nur Kreative, auch die Ärmsten Europas. Es gibt viel Armutseinwanderung aus Rumänien, Bulgarien, Polen, Geflüchtete aus aller Welt landen hier.
Und schließlich Punkt Nummer drei: Eine offene Stadt bedeutet auch allgegenwärtiges Elend: Während Arme in London oder Amsterdam an den Rand verdrängt werden, lässt Berlin sie im Zentrum leben. Am Bahnhof Zoo, am Stuttgarter Platz, am Ostbahnhof, an der Warschauer Straße oder in der Müllerstraße in Wedding –Brennpunkte, die der Armutsbeauftragte Vachroi aufzählt. Sie liegen alle innerhalb des S-Bahn-Rings.
Soll das Elend weg – oder sichtbar bleiben?
Die einen wünschen sich: Bitte nicht vor der eigenen Haustür! Doch Vachroi hält dagegen: „Armut muss sichtbar sein – sonst verschwindet auch der Druck, sie zu bekämpfen.“