Jobcenter betrogen

Bandenbetrug durch Jobcoaching: Berlin um eine knappe Million Euro gebracht

Jobcoaches sollen Berlin um viel Geld gebracht haben. Eine Berufskollegin, die das nicht für möglich gehalten hätte, erklärt, wie es dazu gekommen sein könnte.

Author - Berliner KURIER
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Hier hat ein Coaching wirklich stattgefunden (Symbolbild).
Hier hat ein Coaching wirklich stattgefunden (Symbolbild).imago

Florence Sène (61) war schockiert, als sie von dem groß angelegten Betrug durch Jobcoaches erfuhr. Die Coachingleiterin arbeitet am Tempelhofer Damm und war überzeugt, dass das System sicher sei. Doch die Realität sah anders aus: Eine kriminelle Bande, bestehend aus zertifizierten Coaches, hat die Stadt um fast 891.000 Euro betrogen. Das Geld floss von Jobcentern und Arbeitsagenturen. Ende September wurden bei einer Razzia Vermögenswerte beschlagnahmt. Mehr als 200 Polizisten durchsuchten in ganz Berlin Privatwohnungen und Geschäftsräume. Ein mutmaßlicher Kopf der Bande sitzt seitdem in Haft.

Viele Menschen, die Arbeitslosengeld I oder II beziehen, nutzen Gutscheine für berufliche Coachings. Die Träger der Maßnahmen sollen die Leistungen anschließend abrechnen, doch genau diese Abrechnungen sind nun im Verdacht, gefälscht worden zu sein. Die Betrüger sollen 140 Fälle vorgetäuscht haben.

„Heute nennen sich viele Menschen Coach“, sagt Florence Sène

Florence Sène arbeitet seit mehr als fünf Jahren bei der „Erfolgsmanufaktur“, einem Berliner Träger, der Coachings für Arbeitslose anbietet. Ihr Büro befindet sich in einem Eckhaus. Ein moderner, heller Raum mit einem bunten Plakat an der Eingangstür, das alle Religionen und Hautfarben begrüßt.

„Heute nennen sich viele Menschen Coach“, sagt Sène, deren Arbeit mit „Life-Coaching“ nur wenig gemein hat. Sie verhilft Menschen zu einer beruflichen Orientierung. Grundlage sind Aktivierungs- und Vermittlungsgutscheine, kurz AVGS, die von Jobcentern oder Arbeitsagenturen ausgestellt werden.

Viele ihrer Kundinnen und Kunden kommen mit geringem Selbstvertrauen, einige haben finanzielle und familiäre Probleme. Das Coaching bei der Erfolgsmanufaktur dauert meist drei Monate. Zu Beginn steht die „Biographiearbeit“: Die Klienten erzählen von Flucht oder Umzügen. Es geht darum, ihre Stärken und Interessen herauszuarbeiten. Danach folgt die „Wertearbeit“: Es geht darum, die persönlichen Werte mit den Anforderungen des Arbeitsmarkts in Einklang zu bringen.

Im weiteren Verlauf entwickeln die Coaches gemeinsam mit den Klienten konkrete Ziele. „Das ist wie italienische Tomatensoße kochen“, beschreibt Sène die Methode – Schritt für Schritt, konzentriert und mit Fokus auf das Wesentliche. Ein Zwischenschritt ist gemacht, wenn der Klient sagt: „Das bin ich, das kann ich, das will ich.“ Nach einigen Wochen bekommt das Jobcenter einen Zwischenbericht, in dem festgelegt wird, ob nun eine Stelle gesucht oder eine Weiterbildung angegangen wird.

Die Haushaltsdefizite nach Corona haben die Aufträge für Coachings sinken lassen

In den letzten Wochen werden Bewerbungstraining, Lebenslauf-Erstellung und Vorstellungsgespräche geübt. Sène ist überzeugt: „Jedes Coaching ist ein Erfolg.“ Für viele kommen nach dem Programm neue Perspektiven, andere finden direkt einen Job oder eine Weiterbildung.

Während Sène die Überwindung von Vermittlungshemmnissen erklärt, klingelt es unerwartet an der Tür. Ein älterer Mann mit Vespa-Helm bringt seinen Gutschein ins Büro. Er will einen Termin machen und den Gutschein am liebsten bei der Coachin lassen – wohl aus Angst, ihn zu verlieren. Sène spricht erst Italienisch mit ihm, später wechseln die beiden ins Deutsche. Außerdem spricht die 61-Jährige auch Französisch und Englisch fließend. Die Coachings sollen aber möglichst auf Deutsch stattfinden.

Die Haushaltsdefizite nach Corona haben die Aufträge für Coachings sinken lassen. Derzeit beschäftigt die Erfolgsmanufaktur etwa ein Dutzend Coaches, darunter einige auf Honorarbasis. Nun hat auch noch ein Bandenbetrug den Ruf der Branche beschädigt.

Knapp 890.000 Euro sollen durch 140 erfundene Coachings erbeutet worden sein

Die Ermittlungen deuten darauf hin, dass die Bande vermutlich durch gefälschte Berichte und manipulierte Abrechnungen die Behörden getäuscht hat. Es wird vermutet, dass die Täter Arbeitslose dazu gebracht haben, Dokumente ohne tatsächliche Coaching-Leistungen zu unterschreiben. Zudem haben sie wohl Berichte gefälscht, um die Abrechnungen zu rechtfertigen. Die knapp 890.000 Euro sollen durch etwa 140 Fälle zusammengekommen sein. Macht knapp 6400 Euro pro Fall. Bei der Erfolgsmanufaktur werden für ein dreimonatiges Coaching nur 3500 Euro abgerechnet.

Florence Sène hielt das Abrechnungssystem für „wasserdicht“, doch die aktuellen Ermittlungen zeigen, dass auch hier Täter ihre Methoden weiterentwickeln und trickreiche Wege finden, um die Behörden zu täuschen. Weil es sich um ein laufendes Verfahren handelt, wollten die Berliner Jobcenter sich nicht zu dem Fall äußern. Sie erklärten aber, dass Maßnahmen von „neutralen Zertifizierungsstellen“ genehmigt werden müssen und „jedem Hinweis auf Leistungsmissbrauch und Verdacht auf Betrug konsequent nachgegangen“ werde.