Es gibt Tage, da wackeln zementierte Wahrheiten. Damit ist nicht gemeint, dass Rezession gern als Minuswachstum beschönigt wird oder, um tagesaktuell zu sein, horrende Schulden in zwölfstelliger Höhe als Sondervermögen herhalten sollen. Vielmehr geht es um das fast unumstößliche Gesetz: Zahlen lügen nicht. Für das kleine Einmaleins mag das noch gelten. Ansonsten aber: von wegen!
Es geht um tatsächliche Größen wie die vor vier Tagen nach dem Spiel des 1.FC Union gegen den FC Bayern München, das 1:1 endete. Ein Mathematiker nennt sie reale Zahlen. Als da wären: Ballbesitz hier 19,5, da 81,5 Prozent; gespielte Pässe hier 180, da 741; angekommene Pässe hier 54 Prozent, da 89 Prozent. Umgerechnet heißt das, dass bei den Eisernen 97 Zuspiele den Mitspieler erreichten. Im Durchschnitt kam jede Minute ein einziges nur zum richtigen Mann.
Den Spielern des 1. FC Union gelang pro Minute ein erfolgreicher Pass
Eine Katastrophe. Beim Gegner dagegen wurden 659 Pässe richtig adressiert. Das sind mehr als 70 pro Minute und damit etwas mehr als ein Pass pro Sekunde. Ein Wunder, dass den Rot-Weißen dabei nicht schon beizeiten schwindlig geworden ist. Damit ist aber auch klar: Solche Zahlen spiegeln nicht unbedingt die Realität wider, sondern allein den optischen Eindruck. Der kann, wie so oft im Leben, täuschen. Zehn, 20, 30 Zuspiele auf Höhe der Mittellinie, hierhin und dorthin, noch einmal zurück und eventuell ein weiteres Mal im Kreis, ohne dass auch nur ein Gegenspieler den Ehrgeiz entwickelt, energisch auf den Mann zu gehen, ist auch Ballbesitz. Ein billiger ohne einen einzigen Meter Raumgewinn. Es ist, wenn man so will, ein Jonglieren mit ziemlich brotloser Kunst.
Die Kunst ist vielmehr, als eigentlich hoffnungslos unterlegener Gegner – zum Anpfiff stand im Stadion An der Alten Försterei ein Team mit zusammen 134 Länderspielen einem mit 502 A-Einsätzen gegenüber, das zudem Einwechsler mit weiteren 349 Länderspielen auf seiner Bank hatte – seine Stärken so pfiffig einzusetzen, dass es nicht ganz aussichtslos bleibt. Das typische David-gegen-Goliath-Prinzip. Es mag nicht schön sein, aber manchmal heiligt der Erfolg tatsächlich die Mittel. Den Willen zum Mitspielen sollte man für kurze Zeit mal vergessen. Augenhöhe ist in diesem Fall nicht gefragt, dafür eher Auge.
Zusammen schalteten die Spieler des 1. FC Union Harry Kane aus
Nehmen wir das Beispiel Harry Kane. In seinen bisher 56 Bundesligaspielen hat der Engländer 57 Tore erzielt. Eine Quote, die die Eisernen nicht einmal als Team schaffen. Auch in diesem Spieljahr ist er mit 21 Treffern wieder ganz vorn. Doch im Match gegen die Köpenicker: 33 Ballkontakte, drei eher halbherzige Torannäherungen, drei Zweikämpfe. Weit unter seinem Normalniveau. Gefoult wurde der Torjäger, ebenso ein Indiz für seine Harmlosigkeit, lediglich einmal. Vor allem auf den Knipser waren die Eisernen bestens vorbereitet, haben seine Gefährlichkeit in kollektiver Zusammenarbeit eingedämmt und ihn damit zu selten erlebter Wirkungslosigkeit verurteilt. Es war ein Teil des Erfolgsrezeptes.
Dass Ballbesitz für die Köpenicker nicht viel zählt – Nörgler meinen gar, mit der Kugel könnten sie ohnehin nicht viel anfangen –, ist seit Beginn ihrer Zeit in der Bundesliga sichtbar. Das hat sich auch in ihrer sechsten Spielzeit nicht geändert. Beim 2:1 eine Woche zuvor in Frankfurt betrug ihr Ballbesitz 33 Prozent, ebenso beim 2:1 zu Hause gegen Mainz, inzwischen auf Rang 3 (!) geklettert.
Der 1. FC Union gewann in Hoffenheim mit 35 Prozent Ballbesitz
Krasser noch zeigt es sich beim 4:0 bei der TSG Hoffenheim, dem höchsten Sieg seit dem 6:1 auf Schalke vor zweieinhalb Jahren. Selbst dort betrug der Zeitanteil, in dem der Ball in den Reihen der Köpenicker zirkulierte, ganze 35 Prozent. Aber, das zeigt das Dilemma: Beim 0:3 am Millerntor gegen St. Pauli waren es satte 56 Prozent. Noch Fragen?
Nur ist auch das der eigentliche Sinn eines Mannschaftssports wie Fußball: Gemeinsamkeit. Kollektivität. Zusammengehörigkeit. Geschlossenheit. Das Einstehen des einen für den anderen. Damit schwächere Individualisten den Größen der Branche mal zeigen können, wo der Hammer hängt. Nie war das wichtiger als gegen die Bayern bei deren Überlegenheit. Oder, was jeder Steppke schon lernt: Das Spiel ohne Ball ist mindestens so wichtig wie das mit. An die Wand gespielt wurden die Männer um ihren wiederum starken Kapitän Christopher Trimmel jedenfalls nicht.
Im Fußball gibt es trotz aller Datenmengen ohnehin nur eine Wahrheit. Die beläuft sich in der Regel auf zwei Ziffern. Es sind die, die am Ende auf der Anzeigetafel stehen. Zum Beispiel, wie nach plus fünf oder dann doch sechs Minuten gegen die Bayern, zwei Einsen. ■