Was ist das für ein Paukenschlag, der in Köpenick zu vernehmen ist. Ins höchste, ins für sie allerhöchste Regal haben sie gegriffen beim 1. FC Union ganz am Ende der Transferperiode im Sommer vorigen Jahres. Größer, bekannter, prominenter geht es für die Eisernen nicht. Der Name hat Klang nicht nur in Italien, in der Heimat dieses einzigartigen Mannes. Ein wenig, na klar, riecht der Name auch nach Dolce Vita, ansonsten atmet er pure Superklasse: Le-o-nar-do Bo-nuc-ci!
Mancher will es nicht glauben, dass sich dieser Ausnahmefußballer an diesen für seine Ansprüche namenlosen Verein bindet. Inter und AC Mailand, dazu vor allem Juventus Turin sind die noblen Adressen, mit denen seine Laufbahn verknüpft ist. Noch nie hat der inzwischen 36-Jährige für einen ausländischen Klub gespielt. Und nun das: die Schlosserjungs; der damalige Underdog aus dem Osten Deutschlands; dieser frühere Arbeiterverein; der Newcomer im deutschen Fußball-Oberhaus, den sie Jahr für Jahr eher im Kampf gegen den Abstieg als im oberen Tabellendrittel sehen.

Was will der italienische Weltstar beim 1. FC Union?
Fragen stellen sich, Fragen über Fragen. Was will ein neunmaliger italienischer Meister, ein viermaliger Pokalsieger, Italiens Fußballer des Jahres 2016, ein 121-maliger Nationalspieler und vor allem ein aktueller Europameister in der Alten Försterei? Welchen Floh hat er sich da ins Ohr gesetzt oder gesetzt bekommen? Bei Juventus hatte er Vertrag bis 2024. Nur hatte Massimiliano Allegri einen anderen Plan. Der Trainer sortierte einen seiner eigentlichen Anführer kurzerhand aus. Bonucci, dem sich über viele Jahre alle Türen wie von Geisterhand öffneten, stand von jetzt auf gleich im Abseits. Nicht einmal mehr mit der ersten Mannschaft durfte er trainieren.
Was dann passiert, ist, so glauben beide Parteien, ein guter Deal. Von der „Möglichkeit, weiter auf höchstem Niveau zu spielen und mit meiner Erfahrung die Mannschaft auf ihrem Weg in drei anspruchsvollen Wettbewerben zu unterstützen“ ist die Rede bei ihm, und auf Seiten der Eisernen herrscht die Überzeugung vor, „dass er mit seiner Mentalität und Flexibilität unsere Möglichkeiten in der Abwehr erweitert und das Niveau noch einmal steigern wird“.
Bonucci kommt mit Trainingsruckstand beim 1. FC Union an
Klingt gut, klingt sehr gut, klingt nahezu hervorragend. Nur erweist sich der Weggang aus Turin, was niemand zu ahnen vermag, am wenigsten Bonucci selbst, als eine Flucht ohne Ankunft. Trainingsrückstand hat er, keine Bindung zu den Mitspielern, kaum Kenntnisse der deutschen Sprache, und auch Frau und Kinder sind in der Heimat geblieben. Das kann selbst den erfahrensten Profi aus den Schuhen kippen.
Dabei trägt er sein sportliches Los mit Fassung. Obwohl die Eisernen von einer Niederlage in die andere trudeln, Bonucci dabei wenig bis gar nicht helfen kann, dem unaufhörlichen Strudel in die Tiefe zu entkommen, bleibt er zuversichtlich. Hin und wieder erlaubt er sogar einen tiefen Blick in sein Seelenleben. Einer seiner Sätze in Berlin lautet: „Ich bin sehr, sehr glücklich mit meiner Entscheidung, denn mit dem Trainer, der Gruppe, den Fans und der Stadt mache ich eine wunderbare Erfahrung, sowohl sportlich als auch menschlich.“ Ein anderer, der noch viel mehr Tiefe hat: „Ich bin froh, denn ich habe das Gefühl, dass ich immer noch am Leben bin.“
Nun ist Fußball beileibe kein Sport auf Leben oder Tod. Aber dass jemand, der seine ganze Laufbahn mehr oder weniger oben auf der Wurstsuppe schwamm und der seine Triumphe und erst recht Siege nicht mehr gezählt bekommt, derartige Statements gibt, ist durchaus bemerkenswert. In einem Business, in dem es um Glanz und Gloria geht, um Chuzpe und Cleverness, um Tore und Titel, ist das menschlich eine glatte Eins. Ein solches Verhalten zeugt von Größe. Die hat zumeist nur derjenige, der niemandem mehr etwas beweisen muss. Bonucci ist so einer.
Gelbe Karte auf der Bank des 1. FC Union beendet die Karriere in der Champions League
Und doch hat es nicht geklappt. Nicht in der Bundesliga mit nur sieben Einsätzen und nicht in der Champions League, in der Bonucci all die Jahre zuvor unzählige Spiele absolvierte und in Europas Königsklasse selbst zu den Königen zählte. Nicht einmal dort findet er sich mehr zurecht. Seine letzten Schritte im Königswettbewerb haben gar das Zeug zum Slapstick. Mit zwei Verwarnungen aus den ersten Spielen vorbelastet, kassiert er beim 1:1 in Braga, dem vorletzten Gruppenspiel, seine dritte. Dabei ist er nicht einmal auf dem Rasen dabei. Sein Meckern auf der Bank reicht. Die Konsequenz: Sperre für den Abschluss im Olympiastadion gegen Real Madrid. Ein letztes Spiel gegen die Königlichen hätte wenigstens einen stilvollen Abgang gegeben. So ist es einer von der Tribüne.
Auf den Weg über den Brenner hatte er sich gemacht, um noch einmal an einem EM-Turniere teilzunehmen. Seinem letzten, das war vorher klar. Er, der die Squadra Azzurra 2021 in London, auf dem heiligen Rasen von Wembley, zum Europameister gemacht hatte, wollte sich ein allerletztes Mal beweisen. Einfach abgeschoben – so konnte, so durfte seine Bilderbuchkarriere nicht zu Ende gehen. Trotzdem sah er auch in Köpenick seinen Stern von Tag zu Tag sinken. Ein nächster Tiefpunkt schien erreicht, als er nicht einmal Anfang Januar im Test gegen Drittligist Arminia Bielefeld in der Startformation stand. Dieses Spiel wird allein dem 18-jährigen Tim Schleinitz und dem noch ein Jahr jüngeren Oluwaseun Agbemudia in Erinnerung bleiben, durften sie doch die letzten Minuten mitmachen und können so von sich behaupten, in ihrer Karriere gemeinsam in einer Mannschaft mit dem großen Leonardo Bonucci gestanden zu haben.

Vom 1. FC Union zieht Bonucci weiter zu Fenerbahce Istanbul
Der nämlich zieht, begleitet von vielen warmen Worten, zu Fenerbahce Istanbul. Doch auch in der dortigen Süper Lig findet er keinen Anschluss. Von 19 möglichen Spielen verbringt er fünf auf der Bank, in drei weiteren fehlt er wegen einer Blessur, in wiederum drei anderen ist er nicht einmal im Aufgebot. In den acht Partien, in denen er zum Einsatz kommt, schafft er es jedoch nur einmal über die volle Spielzeit und zusammen auf lediglich 197 Minuten.
Was zu einer Qual zu werden droht, ist dann umso schneller vorbei. Bonucci wäre mit nun 37 Jahren nicht der große Fahrensmann, um zu erkennen, dass es keinen Sinn mehr macht. Drei Wochen vor Beginn der Europameisterschaft, bei der er ein letztes Mal für die Squadra Azzurra hätte dabei sein wollen, verkündet er sein Karriereende mit einem Statement, das mit diesen Worten beginnt: „Es war mir eine Freude …“




