Geteiltes Leid ist halbes Leid, sagt man. Das würde die Schultern der Macher und Spieler beim 1. FC Union ein wenig entlasten. Nur müssen sie die derzeitige Bürde mit dem freien Fall von Rang eins der Bundesliga nach der zweiten Runde 14 Plätze tiefer mitten hinein in den Tabellenkeller dennoch allein tragen. Da verschafft nicht einmal der Blick in die Niederlande, wo es einen deutlich ambitionierteren Verein gerade ähnlich und noch mehr beutelt, Linderung.
Ajax Amsterdam, schlechthin das Flaggschiff der Eredivisie, der der Verein seit deren Gründung im Jahr 1956 ununterbrochen angehört, ist angeschlagen wie nie in seiner 123-jährigen Historie. Mit 36 Titelgewinnen ist Ajax niederländischer Rekordmeister und neben Juventus Turin, Bayern München, dem FC Chelsea und Manchester United einer von nur fünf Vereinen, der alle großen europäischen Trophäen gewonnen hat: 1971 bis 1973 gelang ein Hattrick im Meisterpokal, 1995 kam der Gewinn der Champions League dazu, 1992 hatten die Ajacieden den Uefa-Cup gewonnen und 1987 im Finale von Athen mit einem 1:0 über den 1. FC Lokomotive Leipzig den der Pokalsieger.
Dieses Schwergewicht des europäischen Fußballs und der 1. FC Union, im Vergleich dazu ein eher winziges Licht, tragen ein ähnliches Leid in sich? Witzig, witzig, oder? Es ist dennoch so, für die Niederländer gefühlt deutlich schlimmer, für die Eisernen trotzdem alles andere als lustig.
Ajax Amsterdam stürzte seit dem Aus gegen den 1. FC Union in der Europa League gnadenlos ab
Der Sturz von der alles überstrahlenden Nummer eins ans Ende der Tabelle ist mehr als eine Majestätsbeleidigung. Er ist eine Vollkatastrophe. Bei Ajax hängt die Rote Laterne!
Vor acht Monaten erst standen sich die Weiß-Roten von dort und die Rot-Weißen von hier in den Play-offs zur Europa League gegenüber – mit dem besseren Ende für die Eisernen. Es war eine Sternstunde für die Männer aus Köpenick und der Beginn des Desasters für die Erben von Johan Cruyff und Frank Rijkaard, Ruud Krol und Johan Neeskens, Marco van Basten und Dennis Bergkamp. Während die Männer um Trainer Urs Fischer Vierter wurden und damit ihre sowohl für die Bundesliga als selbst für die DDR-Oberliga beste Platzierung bejubelten, wussten sie bei Ajax mit Rang drei, ihrem miesesten Ergebnis seit 17 Jahren, nichts anzufangen.
Beim 1. FC Union sind alle Entscheidungsträger noch da, bei Ajax wurden alle gefeuert
Seit Saisonbeginn jedoch ist alles anders, schlimmer nämlich, auch wenn der Start mit einem 4:1 von Ajax gegen Almelo und einem 4:1 von Union gegen Mainz identisch ausfiel. Eine, nie passte der Ausdruck besser, Momentaufnahme. Zwei Monate später geht es im Gleichschritt weiter, nur eben dramatisch nach unten. Wie der 1. FC Union wartet Ajax seit zehn Spielen auf einen Sieg, hat um Punkte (eines) und in der Europa League (zwei) wenigstens drei Spiele nicht verloren, dafür aber umso mehr Hollywood in sich.
Während im Stadion an der Alten Försterei mit Urs Fischer und Manager Oliver Ruhnert die sportlich Verantwortlichen aufgrund ihrer jahrelangen Verdienste schier unantastbar sind und ihnen zugetraut wird, die Karre zur Not mit einer Ehrenrunde durch die Zweite Liga wieder flottzukriegen, fliegt denen in der Johan-Cruyff-Arena alles um die Ohren. Maurice Steijn, Trainer-Nachfolger von John Heitinga: gefeuert. Sportdirektor Sven Mislintat, bis November 2022 in dieser Funktion beim VfB Stuttgart und erst seit Mai bei Ajax: Vor fünf Wochen schon war es zu Ende. Pier Eringa, Chef des Aufsichtsrates: zurückgetreten. Allein Klaas-Jan Huntelaar, einst Torjäger auf Schalke, ist noch dabei, lässt sein Amt als Technischer Leiter jedoch krankheitsbedingt ruhen.
Union und Ajax mit vielen Parallelen
Dafür gibt es in den Spielen ausgesprochen viele Parallelen. Am Sonntag führte Ajax in Eindhoven, so wie der 1. FC Union drei Wochen zuvor in Dortmund, mit 2:1, verlor aber nicht wie die Eisernen 2:4, sondern kassierte noch ein Tor mehr. In der Europa League lagen die Niederländer gegen Olympique Marseille, so wie Union gegen Braga, 2:0 vorn, gingen nach dem 2:2 erneut in Führung, mussten sich aber mit einem 3:3 begnügen. Na gut, die Eisernen hatten gegen Braga noch verloren. Dafür drehte Ajax gegen Utrecht ein 0:2, schaffte innerhalb von 13 Minuten ein 3:2, verlor beim damaligen Tabellenletzten in letzter Minute trotzdem mit 3:4. Da beißt sich doch die Katze in den Schwanz.
Wird nun, da es tiefer zumindest in dieser Saison dort nicht und hier nur drei Plätze geht, alles besser? Bevor es Kaffeesatzleserei wird, die Fakten. Der 1. FC Union hat es am Dienstag in Stuttgart (neues Spiel, neues Glück und mit Pokal ein anderer Wettbewerb) auf dem Fuß, die Gruselserie zu beenden und am Sonnabend gegen Eintracht Frankfurt seinen Punktestand zu korrigieren. Ajax hat in zwei Heimspielen, Donnerstag gegen Volendam und Sonntag gegen Heerenveen, Gelegenheit, die Rote Laterne abzugeben. Hier bleibe ich sowieso am Ball, dort aber auch.