Wenn man die „Jungs“ von Santiano so erlebt, könnte man denken, die Band gibt es schon ewig – und das nicht nur deshalb, weil sich die Shanty-Rocker schon seit ein paar Jährchen in der sogenannten dritten Lebenshälfte befinden. Hans-Timm „Timsen“ Hinrichsen (58), Björn Both (59), Axel Stosberg (56) und Peter David „Pete“ Sage könnten auch erzählen, dass sie sich seit ihrer Jugend kennen und sie die Band gemeinsam in der Schule gegründet haben, man würde es ihnen sofort glauben. Die Wahrheit ist, dass sich die damals noch fünf Mitglieder der bekanntesten und erfolgreichsten Seemannsband Deutschlands (Andreas Fahnert ist gesundheitsbedingt seit einigen Jahren nicht mehr dabei) erst 2011 auf einer Party eines Musikproduzenten kennenlernten.
Ihre Musik ist eine Mischung aus norddeutscher Volksmusik, Pop, Rock und Schlager, mit der Santiano regelmäßig die Charts stürmen, mehrere Echos gewannen und sich eine riesige Fanbase aufbauten – und das fast ganz ohne Social Media, wie Axel Stosberg und Björn Both im Interview mit dem Berliner KURIER erzählen.
Unsere Autorin trifft die zwei anlässlich ihres neuen Albums „Doggerland“ und der dazugehörigen Tour in Berlin. Beide reagieren irritiert, als sie ein „Sie“ hören. Axel und Björn möchten geduzt werden und diesen Gefallen tun wir ihnen gerne.
„Auf nach Doggerland!“ mit Santiano
Berliner Kurier: Wie ist euer Verhältnis zu Berlin?
Björn Both: Aus dem Alter sind wir raus! (lacht) Ich habe das mal versucht mit Berlin, aber Berlin ist mir zu groß. Es gibt nicht so wirklich ein Zentrum. Ich bin da recht einfach gestrickt. Mir reicht eine Stadt, wo es ein Zentrum gibt, da gehen dann alle hin und treffen sich. Hamburg ist gerade so die Grenze an Stadt, die ich noch verkraften kann. Wir sind nicht umsonst alle aus unseren städtischen Abenteuern wieder zurück aufs Land gezogen.
Axel Stosberg: Berlin ist ja so groß, dass selbst viele Berliner die Stadt gar nicht wirklich kennen. Die leben meistens in ihrem Kiez und lieben den. Bei Hamburg ist das ähnlich, aber Hamburg hat noch die Mönckebergstraße und den Jungfernstieg und dann geht’s ab ins Zentrum, wo alle zusammenkommen.

Euer neues Album heißt „Doggerland“. Wie kam es zu dem Namen?
Björn: Wir fanden das Thema des versunkenen Landes zwischen Deutschland und Großbritannien – dort, wo jetzt die Nordsee ist – recht spannend. Mit Doggerland beschreiben wir eine Vergangenheit, die auf eine mögliche Zukunft hindeuten könnte, und ziehen eine Parallele zur jetzigen Zeit.
Axel: Als wir von Doggerland gehört haben, war uns schnell klar, dass das Album so heißen muss, das klingt schön norddeutsch und ist ein geiler Name.
Björn: Aber keine Sorge, es wird sich nicht das ganze Album um Doggerland drehen! Es geht auch um Themen wie die verschmähte Liebe und all das, was uns Menschen so berührt.
Ihr habt gerade die mögliche Zukunft angesprochen. Wie sieht denn die Zukunft von Santiano aus?
Axel: Was für ein Riesensprung! (lacht) Wir haben ja gerade erst unser zehnjähriges Jubiläum hinter uns. Seit Anfang an ist es so, dass wir – wie Timmi immer so schön sagt – auf Sicht fahren. Das heißt, wir kümmern uns erst mal ums neue Jahr und die neue Tour.
Björn: Wir sind keine Band, die einen Drei-Jahres-Plan erstellt und diesen dann auf Gedeih und Verderb durchzieht. Bisher sind wir ganz gut damit gefahren, dass wir auf die Zeit und die Entwicklung reagieren. Wenn wir noch Lust haben, fahren wir weiter. Und wenn wir eines Tages aufwachen und sagen „kein Bock mehr“, dann ist das ein guter Grund, um aufzuhören.

Das Leben auf Tour und Groupies
Eure Tour startet im April. Wie haltet ihr solch eine Zeit, in der es fast jeden Abend auf die Bühne geht, gut durch?
Björn: Kondition ist auch Konzentration. Wenn man nicht mit der nötigen Kondition unterwegs ist, geht einem auch die Konzentration flöten. Dann wird man schlappig in der Stimme, dann fängt man hier und da an zu schluffen. Und wenn erst mal sieben Leute auf der Bühne anfangen zu schluffen, dann hat man ein Problem.
Axel: Am Ende bleibt nur Disziplin. Es geht nicht, dass man nach dem Konzert noch bis morgens um vier am Hoteltresen oder im Bandbus säuft.
Björn: Das geht schon, aber dann gehen die Konzerte den Bach runter. (lacht) Das würde heute beim Publikum nicht mehr so durchgehen …
Aber das Bier nach dem Konzert darf trotzdem sein?
Björn: Das muss sein! Aber es gibt eben kein Besäufnis und wir hängen auch nicht nach dem Konzert noch zusammen rum und lachen. Das Problem ist: Wir lachen in dieser Band so gerne, aber so leid es mir tut, lachen macht unglaublich heiser.
Axel: Wir haben früher nach unseren Konzerten grundsätzlich Autogrammstunden gegeben. Das hat uns viel Spaß gemacht und hat uns auch viel gebracht. Eine Band, die nach jedem Konzert Autogramme gibt, das merken sich die Leute. Aber es wurde immer schwieriger gegen den Lärm vom Abbauen der Bühne und die lauten Fans, die teilweise rotzbesoffen waren … Ich sage das jetzt voller Respekt, denn die Stimmung war super. Aber es war schwierig, dagegen anzubrüllen und nach den Namen zu fragen. Nach zwei Stunden hat man seine Stimme mehr belastet als nach einem Konzert, das konnten wir nicht mehr leisten. Irgendwann war die Grenze erreicht. Seitdem wir das nicht mehr machen, halten nicht nur die Stimmen besser, wir halten auch gesundheitlich länger durch, es gibt kaum noch Krankheiten in der Band. Wir sind zwei Stunden früher im Hotel, um uns zu erholen, das bringt uns eine Menge.
Apropos Hotel. Habt ihr so was wie Groupies?
Björn: Die werden durchnummeriert und nach Haarfarbe sortiert … (lacht)
Axel: Groupies, nein. Da denkt man an kreischende Frauen bei den Beatles, die die Nerven verlieren. Unsere Fans in der ersten Reihe lassen sich richtig tolle Sachen einfallen, mit leuchtenden Herzen und Bannern.
Björn: Aber wir kriegen zum Glück keine BHs auf die Bühne geworfen oder werden doof angebaggert, solche Fans haben wir nicht. Wir kriegen ganz selten mal Liebesbriefe … Nichts mit nackt ausziehen und „Ich will ein Kind von dir“. Die gucken uns eher an und sagen sich: „Ach, da passiert sowieso nichts mehr.“ (lacht)

Bitte kein Social Media!
Wie steht ihr zu Social Media?
Axel: Nächste Frage bitte! (lacht) … Das ist ein emotionales Thema bei uns. Wir haben sehr engen Kontakt zu unseren Fans. Aber was Social Media angeht, wir haben uns so bemüht, wir hatten große Konferenzen mit der Plattenfirma und dem Konzertveranstalter. Wir hatten Schulungen! Ein Dutzend Spezialisten saßen vor uns und meinten: „Macht bitte was! Es ist doch eigentlich ganz einfach, ihr müsst nur …“
Björn: Wir machen Facebook, das ist Steinzeit, wissen wir auch. Wir machen aus Versehen mal Instagram, aber auch nur dann, wenn bei Facebook die Funktion eingeschaltet ist, dass das auch automatisch bei Instagram gespielt wird.
Axel: Ich würde auch am liebsten kein Facebook mehr machen, aber wir wissen, dass wir ein gewisses Maß an Kontakt zu unseren Fans halten müssen, und wir haben ja auch zum Glück noch viele Fans, die auch noch auf Facebook unterwegs sind. Mehr geht nicht, wir haben es alle probiert. Ich mag auch wirklich nicht meine Zeit dafür investieren. Das ist gestohlene Lebenszeit. Ich werde nicht am Hafen marschieren und sagen: „Oh, das ist doch hier eine schöne Kulisse, da mache ich schnell ein Zwanzig-Sekunden-Video.“
Björn: Und dann muss man hinterher nachsehen, was da so passiert, dann passiert irgendwas und man denkt sich: „Oh, Mist, ich muss darauf jetzt auch noch reagieren.“ Also wir sind wirklich schlecht.
Es funktioniert ja auch gut für euch ohne viel Social Media, oder?
Björn: Ja, die Fans verlangen es nicht. Aber wir wissen ja, wenn wir das mehr bespielen würden, würden wir auch noch mal besser performen. Die Frage ist nur: Wollen wir das? Wie hoch ist der Preis dafür?
Axel: Klar, wir sind ja auch irgendwo Berufskünstler, und wenn wir uns da reinsteigern würden, hätten wir auch eine ganz andere Reichweite. Wenn wir das von Anfang an gemacht hätten, wäre es vielleicht in Fleisch und Blut übergegangen. Aber ich werde jetzt nicht nach zehn Jahren versuchen, mich mit 56 Jahren in TikTok reinzuversetzen. Dann auch noch, wenn ich weiß, dass ich genau den Menschen in dem Alter zu Hause sitzen habe, bei dem ich permanent versuche, ihn davon wegzuhalten, und dazu animiere, sich mal aufs Fahrrad zu setzen oder Fußball zu spielen. Das kann ich einfach nicht!
Björn: Das ist die Diskrepanz, die bei uns wirklich eine Rolle spielt. Wieso sollen wir Menschen zu Dingen überreden, die wir zutiefst verachten? Wenn sich jemand wirklich von uns 24 Stunden am Tag an sein Handy festnageln lassen würde, sich in Spiele und Reaktionen verwickeln lässt, dann habe ich keinen Respekt mehr vor demjenigen.
Axel: Und auch keinen Respekt mehr vor mir selbst. Wie soll ich Respekt vor mir haben oder wie soll ich von meiner Familie erwarten, dass sie Respekt vor mir hat, wenn ich genau das aufbaue, was ich verabscheue?
Björn: Wenn ich ehrlich bin, ich wünsche mir, dass das mit Social Media wieder etwas zurückgeht. Oder mit anderen Worten: „Lasst die Welt noch einen Augenblick lang so, wie wir sie gewohnt sind!“