Die Kritiker bei den Filmfestivals in Venedig und Toronto feierten sie für ihre schauspielerische Leistung in ihrem neuen Film „Memory“. Jessica Chastain spielt darin die Sozialarbeiterin Sylvia, eine trockene Alkoholikerin, die sich um ihren demenzkranken ehemaligen Mitschüler (Peter Sarsgaard) kümmert. Um ein Haar hätte der Regisseur Michel Franco die Rolle anders besetzt, obwohl die 46-Jährige gerade ihren ersten Oscar für „Die Augen von Tammy Faye“ gewonnen hatte. Oder besser gesagt: Weil sie gerade gewonnen hatte.
Jessica Chastain: „Michel hatte von jemandem die falsche Info bekommen, dass es ein echter Albtraum sei, mit mir zusammenzuarbeiten. Mit dieser Diva, die jetzt so viel Aufmerksamkeit bekomme, dass sie nicht mehr an einem kleinen Film interessiert sei. Angeblich auch, weil ich keine eigene Garderobe bekommen würde.“
Und das stimmte nicht?
Also es gab tatsächlich keine Garderobe. Aber ich bin direkt nach den Oscars zum Set gekommen. Und ich habe dort selbst meine Haare frisiert und mir meine eigenen Kostüme zusammengestellt. Die habe ich mir übrigens auch selbst im Geschäft gekauft.
Da stellt sich die Frage, was Sie an der Rolle in einem solch kleinen Film gereizt hat?
Zuerst fand ich schon mal das Drehbuch fantastisch. Ich wusste schon, in welche Richtung es gehen würde. Ein düsterer Film, ganz wie Michel Franco sie aufzieht. Was mich für die Rolle dann letztendlich gewonnen hat, ist, dass nicht ein einziges Klischee im Skript zu finden war.

Was meinen Sie damit?
Es ist eine Art Revanche-Film. Und ich hätte erwartet, dass jetzt noch mal Time’s Up, MeToo oder die Pandemie aufgekocht wird. Aber das war gar nicht der Fall. Der ganze Film kommt ohne unnötig schlüpfrige Szenen aus. Es ist ein Inhalt, der anders ist als alles, was ich bisher gesehen habe.
Haben Sie Erfahrungen mit Demenz in Ihrer Familie gemacht?
Ich habe zum Glück keine eigene Erfahrung. Aber ich habe sehr viele enge Freunde, wo das der Fall ist. Deshalb weiß ich nur zu gut, wie traumatisch es sein kann.
Wie haben Sie sich auf die Rolle vorbereitet?
Normalerweise mache ich vorher ein ausführliches Rollenstudium. Doch wenn man mit Michel arbeitet, ist es anders. Dann kommst du einfach direkt zum Set und fängst an zu drehen. Und du wirst in ein echtes Umfeld mit eingebaut. Wir waren in einem Heim für Demenzkranke und ich habe da direkt mitgeholfen. Beim Schuhe anziehen, beim Frühstück machen, beim zum Bus bringen. Ich habe beim Lunch in der Kantine gearbeitet. Alles sehr real. Auch die Meetings der Anonymen Alkoholiker am ersten Drehtag waren echt.
Sie haben echte Meetings der Anonymen Alkoholiker gefilmt?
Nein, bei uns sind nur Schauspieler zu sehen. Aber im Gebäude haben auch die echten Meetings stattgefunden. Das macht alles so authentisch.

Ohne zu viel vorwegzunehmen, Sie spielen als Sylvia eine Frau, die ein sexuelles Trauma erlitten hat und deren ganzes Leben davon geprägt ist. Wie sind Sie damit umgegangen?
Auch hier habe ich jetzt nicht extra Rollenstudium betrieben. Ich kenne eh die traurigen Statistiken, wie viele Frauen in der Gesellschaft körperliche und sexuelle Gewalt erleben müssen. Und fast jeder von uns kennt jemanden, auf den das zutrifft. Deshalb habe ich am Set spontan Sylvias traumatische Geschichte in meinem Kopf kreiert – und dann versucht, diese wieder zu verdrängen. Genau so, wie sie es tut.
Wie würden Sie Sylvia beschreiben?
Sie ist eine Frau, die seit ihrer Kindheit voller Scham und Selbstverurteilung gelebt hat. Sie hat ihr Trauma benutzt, um eine emotionale Mauer um sich zu errichten. Wie einen Schild, mit dem sie sich und ihre Tochter beschützt. Nur dass sie dabei aufhört, wirklich zu leben. Und dann bekommt sie die Gelegenheit, zum ersten Mal ihre Vergangenheit und ihr Trauma ablegen zu können. Natürlich ist der Grund dafür so traurig wie tragisch, weil ihr Gegenüber einfach durch seine Krankheit alles vergessen hat und sie so nimmt, wie sie ist. Das finde ich aber so wundervoll an der Geschichte.
Sie sind einer der wenigen großen Stars, die während des Hollywood-Streiks zu Filmfestivals fliegen durften – weil es kein Studiofilm ist. Hat es sich dennoch merkwürdig angefühlt, allein auf weiter Flur zu sein?
Ich war sehr nervös, bevor ich zur Premiere in Venedig angekommen bin. Weil mir selbst einige Leute aus meinem Team vom Reisen abgeraten haben. Doch im Nachhinein fühle ich mich einfach nur glücklich, dass mir meine Gewerkschaft diese Möglichkeit gegeben hat. Ich unterstützte die Ziele von SAG-AFTRA aus voller Überzeugung. Wir mussten in den letzten Jahrzehnten in einem Umfeld arbeiten, das Missstände am Arbeitsplatz zugelassen hat. Und es ist ein Umfeld, das den Mitgliedern meiner Gewerkschaft unfaire Verträge aufgezwungen hat.