Im KURIER-Interview

Guido Maria Kretschmer: „Ich fühle mich als Waisen-Kind“

Guido Maria Kretschmer liebt Berlin und wünscht sich, dass wir alle besser auf die Stadt aufpassen, so erklärt er es im Interview mit dem KURIER.

Author - Julia Nothacker
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Guido Maria Kretschmer sorgt sich um Berlin.
Guido Maria Kretschmer sorgt sich um Berlin.M. Wehnert/Future Image/imago

19.521 Schritte läuft Guido Maria Kretschmer an einem Tag im Spätsommer 2022 durch Berlin und begegnet Menschen und ihren Geschichten, die ihn nachhaltig so prägen, dass er sie aufschreibt. Entstanden ist daraus das bisher persönlichste Buch des Modedesigners, „19521 Schritte: Vom Glück der unerwarteten Begegnung“. Der Berliner KURIER hat mit Guido Maria Kretschmer über den schweren Verlust seines Vaters im vergangenen August, die Demenzerkrankung seiner Mutter und seinen Abschied von Berlin gesprochen.

Ohne Berührungsangst und unvoreingenommen geht Guido auf seine Mitmenschen zu – sie kennen ihn, aber er nicht sie. Doch genau diese Offenheit ist der Schlüssel für ein empathisches Miteinander, so glaubt der 58-Jährige.

Guido Maria Kretschmer fühlt sich durch den Verlust seines Vaters als Halbwaise

Berliner Kurier: Herr Kretschmer, würden Sie sagen, dass „19521 Schritte“ Ihr bisher persönlichstes Buch ist?

Guido Maria Kretschmer: Ja, absolut. Das war so nicht geplant. Ich habe diesen Tag einfach erlebt und Frank am Abend davon erzählt. Da meinte er: „Schreib es doch auf, damit du es nicht vergisst!“ Als ich den ersten Satz aufschrieb, musste ich schmunzeln und dachte mir: „Mache ich das jetzt wirklich? Schreibe ich das so, wie ich es empfinde?“ Ich wusste, ich kann mich selbst da nicht rausnehmen. Ich kann das nur schreiben, wenn ich auch von mir erzähle, wer ich bin. Ich habe gespürt, dass in diesem Jahr etwas Neues auf mich zukommt. Der Verlust der Eltern, der sich langsam abzeichnet. Man verliert die letzte Eierschale auf dem Kopf.

„19521 Schritte: Vom Glück der unerwarteten Begegnung“ ist Guido Maria Kretschmers bisher persönlichstes Buch.
„19521 Schritte: Vom Glück der unerwarteten Begegnung“ ist Guido Maria Kretschmers bisher persönlichstes Buch.APress/imago

Sie sprechen es gerade an, der Verlust der Eltern. Wie geht es Ihnen und Ihrer Familie nach dem Tod Ihres Vaters?

Ich bin immer noch sehr traurig. Es ist ein neues Leben. Ich fühle mich irgendwie als Waisenkind, ich bin Halbwaise. Ich weiß gar nicht genau, warum ich das so empfinde. Trotzdem fühle ich mich nicht verlassen, er ist immer bei mir. Ich bin sehr dankbar, dass mein Vater überhaupt so lange da war. Heute Morgen hat mir meine Schwester, mit der ich sehr eng bin, noch geschrieben und mir alles Gute für den Start mit dem neuen Buch gewünscht. Da liefen mir die Tränen runter, weil ich dachte: „Ach, wenn Papa da wäre.“ Mir fällt es immer noch sehr schwer, weil ich gerne sein Kind war. Aber ich hatte das große Glück, dass ich mich verabschieden konnte. Er war noch wach und hat mir so liebevolle Dinge gesagt. Das war wunderbar, auch für meine Geschwister. Er ist gegangen, wie er war.

Meine Mutter ist in dieser Zeit in die Demenz gerutscht, was vielleicht auch ein großer Schutz war. Damit der Schmerz nicht so stark ist. Warum sonst sollte das ausgerechnet in der Zeit passieren? Es war auch in meinem Urlaub. Mein Vater hat immer gesagt: „Ich mache das extra in deinem Urlaub, damit du keine extra Drehtage brauchst.“ Er wusste ja, dass ich immer so viel arbeite. Das war so süß und letztendlich ist es auch so gekommen. Sein Abschied war in meinem Urlaub, sogar die Beerdigung war noch an meinem letzten Urlaubstag. Das Buch wurde fertig, da lebte er noch und ich habe ihm daraus vorgelesen, das war sehr schön. Er hat zugehört und dabei meine Hand gehalten.

Hat Sie die vergangene Zeit etwas gelehrt?

Wir können nichts halten. Es ist wie in dem Text von Heinz Schenk: „Es ist alles nur geliehen hier auf dieser schönen Welt. Es ist alles nur geliehen, aller Reichtum, alles Geld. Es ist alles nur geliehen, jede Stunde voller Glück, musst du eines Tages gehen, lässt du alles hier zurück.“ Ich habe viele Menschen aus meiner Generation um mich herum, die gerade Ähnliches erleben. Viele sterben, unsere Eltern sind auf einmal alt.

Deswegen finde ich es so passend, das Buch jetzt zu veröffentlichen, denn in diesen Begegnungen, die ich da schildere, ist noch alles gut. Ich wollte zeigen, wie es ist, wenn einen viele Menschen kennen, wenn man transparent ist, offen für Geschichten, die mir Menschen anvertrauen. Das ist ein großes Geschenk. Ich habe jemanden verloren, der mich bedingungslos geliebt hat, aber ich fühle mich gehalten. Ich bin nicht alleine.

Sie sind sehr bescheiden, gehen offen auf die Menschen zu, nehmen sich für jeden Zeit. Aber auch Sie haben ja mal einen schlechten Tag. Wie schaffen Sie das?

Das ist einfach mein Charakter, aber ich bin auch so aufgewachsen, dass es in Ordnung ist, über Dinge zu sprechen und sich zu öffnen. Natürlich habe ich auch mal einen schlechten Tag. Aber die Menschen schenken mir viel Trost. Es kommen Leute auf mich zu und fragen, ob es mir gut geht. Dann sage ich auch mal: „Ach, heute nicht so.“

Menschen generell sind mir nicht fremd. Auch körperlich kommen sie mir oft ganz nah und drücken mich. Ich habe einfach keine Angst, im Gegenteil. Es gibt so viele tolle Menschen. Man kann sie ja nicht alle lieben, aber man muss sie trotzdem mögen in ihrer Unvollkommenheit. Das macht uns nun mal aus. Aber wenn man anfängt, die Menschen zu hassen, ein Misanthrop wird, dann ist man verloren. Wir haben schon genug Menschen – auch Prominente –, bei denen man spürt, dass sie eigentlich keine Lust mehr haben auf die anderen. Ich finde es immer schwierig, wenn die nicht angesprochen und in Ruhe gelassen werden wollen. In dieser Zeit, in der sich so viele verloren fühlen und die Welt in tausend Ecken auseinanderfliegt, halte ich die Fahne hoch und sage: Wir können das nicht alleine bewältigen, wir müssen zusammenhalten, aufeinander aufpassen, nicht verzweifeln. Das ist der einzige Weg, das alles irgendwie wieder in den Griff zu bekommen.

Guido Maria Kretschmer ist durch seine Offenheit einer der beliebtesten Prominenten in Deutschland.
Guido Maria Kretschmer ist durch seine Offenheit einer der beliebtesten Prominenten in Deutschland.GABO

Ein verspäteter Abschied von Berlin

Ihr Buch beschreibt einen Tag voller unerwarteter Begegnungen in Berlin. Was bedeutet Ihnen Berlin?

Berlin ist mein Zuhause. Ich habe hier wichtige Phasen meines Lebens verbracht, bin hier vielleicht auch erwachsen geworden. Ich kenne die Stadt sehr gut, weil ich ein sehr visueller Mensch bin. Und ich nutze eine Stadt auch gerne kulturell. Das heißt, ich kenne alle Museen, Theater, Kinos. Ich weiß genau, wo was renoviert wird, wo Einschusslöcher sind, welche Ampelphasen nicht gut sind, welche ich besser umfahre, wo ich nicht einkaufen sollte, wo ich esse. Die Stadt hat mich sehr geprägt. Aber wenn ich das Gefühl habe, ich muss gehen, dann tue ich das. Und so war es auch bei Berlin.

Sie schreiben, dass Sie sich nicht von Berlin verabschieden konnten. Warum?

Es war eine etwas dramatische Nacht, in der ich fast einen Unfall hatte. Ich bin in der Zeit viel zwischen Berlin und Hamburg gereist, weil in Hamburg all meine beruflichen Projekte waren. Es ging alles gut aus, aber ich dachte mir: „Nee, jetzt ist Schluss. Ich kann nicht mehr so viel reisen, ich ziehe jetzt nach Hamburg.“ Ich hatte mal wieder Lust auf Möwengeschrei, auf eine andere Welt. Ich mag Hamburg als Stadt sehr, die Alster, die Elbe. Als wir das entschieden haben, habe ich sofort ein Haus gekauft. Bei so was bin ich sehr schnell, da laufe ich zur Höchstform auf. Innerhalb von einer Woche hatten wir ein neues Haus. Irgendwann meinte dann mein Vater zu mir: „Du hast dich gar nicht verabschiedet, Guido. Du bist doch keiner, der so geht.“ Da dachte ich, Papa hat wieder recht. Auch meine Eltern waren sehr eng mit Berlin verbunden.

Als ich diesen Tag in Berlin erlebt habe, spürte ich, dass ich anfange, mich von Berlin zu verabschieden. Ich fühlte mich mit der Stadt, der ich so viel zu verdanken habe, versöhnt. Das schafft die Stadt vor allem durch die Menschen und ihre Geschichten.

Seit einigen Jahren lebt Guido Maria Kretschmer mit seinem Mann Frank Mutters in Hamburg.
Seit einigen Jahren lebt Guido Maria Kretschmer mit seinem Mann Frank Mutters in Hamburg.Golejewski/Eventpress/imago

Viele schimpfen mittlerweile über Berlin und die negative Atmosphäre. Sie nicht?

Ich weiß auch, wie es hier riecht, und ich weiß, welche Straßen es einem leicht machen, die Stadt zu lieben, und welche Ecken es einem schwer machen. Man denkt sich oft: „Ich kann nicht mehr. Der Verkehr und die Leute, die so unfreundlich sind.“ Ich liebe die Stadt, aber ich weiß, was sie kann und was nicht. Heutzutage ist es sehr einfach, Berlin zu bashen. Der ganze Dreck, es ist gefährlich, es ist nicht mehr alles so wie früher. Berlin ist sehr rau, es gibt viel Schlimmes hier. Aber Berlin ist eben auch eine Stadt, die eine große Faszination ausübt.

Ich habe das Gefühl, bei Berlin denkt man, man müsste auf die Stadt nicht aufpassen. Alle nutzen Berlin, jeder Besucher nimmt irgendwas mit. Wie so eine geschändete alte Frau. Wenn die Menschen netter zur Stadt wären, nicht immer einfach alles hinschmeißen, zerstören, dann würde diese schöne ältere Dame auch anders wirken.

Es verändert sich viel in Berlin. Die Friedrichstraße hat an Glanz verloren, das schreiben Sie auch in ihrem Buch. Nun schließt auch noch die Galeries Lafayette.

Das bricht mir das Herz. Ich habe die schwarze Kundenkarte aus Paris, die konnte ich auch hier in Berlin verwenden. Ich war immer eng verbunden mit der Galeries Lafayette, auch für „Shopping Queen“ haben wir oft dort gedreht. So viel geht vorbei, alles stirbt. Es ist schwer, etwas in unserer Zeit zu behalten, von dem die Zeit vielleicht abgelaufen ist. Ich habe immer schon gedacht: „Das ist so teuer. Kann das wirklich laufen?“ Aber dass es jetzt so schnell geht, damit habe ich nicht gerechnet. Der stationäre Handel kann sich nicht mehr durchsetzen. Man müsste die Straße wieder beleben und aufbauen, eine schöne Wohnstraße daraus machen. ■