Das Internet vergisst nicht: Was bedeuten Online-Jugendsünden für junge Erwachsene?
Auch frühere Generationen äußerten sich in der Jugend politisch und machten Fehler. Doch im Unterschied zu heute wurden diese nicht im Internet gespeichert.

Wer in der Öffentlichkeit steht, den holen frühere Fehler irgendwann ein: Tweets, von denen man sich heute wünscht, sie nie abgeschickt zu haben, Kommentare, die man sich besser gespart hätte, aber doch bei Facebook gepostet hat. Früher oder später kommt jemand auf die Idee, mal nachzuschauen, ob bei Posts von Menschen in der Öffentlichkeit nicht auch etwas Dummes dabei war.
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Sarah-Lee Heinrich hatte unter anderem bei einem Tweet mit einem „Heil“ auf ein Hakenkreuz reagiert
So wie es Sarah-Lee Heinrich ergangen ist, die Mitte Oktober beim Bundeskongress der Grünen Jugend zur Co-Sprecherin der Nachwuchsorganisation gewählt worden war. Teils mehrere Jahre alte Äußerungen von ihr lösten daraufhin eine heftige Online-Kontroverse aus. Dabei ging es unter anderem um einen Tweet von ihrem Konto, in dem sie mit „Heil“ auf ein Hakenkreuz reagierte. Heinrich erklärte, sie erinnere sich nicht an den Tweet, entschuldigte sich aber dafür.

In einem Interview von Zeit Online sagte Heinrich nun: „Das war nicht in Ordnung, genauso wie alle anderen diskriminierenden Aussagen. Egal wie ironisch ich mit 14 vielleicht sein wollte.“ Trotzdem wurde ihr das Ganze um die Ohren gehauen, unter anderem von der Literaturkritikerin Elke Heidenreich, die Heinrich bei Markus Lanz unter anderem vorwarf, nicht mit Sprache umgehen zu können.
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Sarah-Lee Heinrich erhielt Morddrohungen
Die heute 20-jährige Heinrich hatte sich kurze Zeit später mit Verweis auf Morddrohungen zunächst aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Es habe einen Shitstorm gegen sie gegeben, der von rechten Netzwerken ausgegangen sei. Über alte Äußerungen von ihr, die sich als Gewaltandrohung oder -fantasie verstehen lassen, sagte Heinrich, sie habe als 13- oder 14-Jährige den Ton und Humor der damaligen YouTuber- und Battlerap-Szene für normal gehalten. Das sei es jedoch nicht, weswegen sie die Tweets schon vor vielen Jahren gelöscht habe.
Doch das Internet vergisst nicht. Der Aufruf, vorsichtig mit geposteten Inhalten in sozialen Medien zu sein, sei nicht neu, meint Kerstin Heinemann vom JFF – Institut für Medienpädagogik. Die Pädagogik rät schon lange, mit Blick auf künftige Bewerbungen besser keine Partybilder zu posten. Soziale Medien seien teilöffentliche Räume. Jugendliche seien sich dessen auch durchaus bewusst.
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Jugendliche und junge Erwachsene von heute stehen durch soziale Medien mehr unter Druck
Doch stünden Jugendliche und junge Erwachsene von heute durch soziale Medien unter einem größeren Druck als frühere Generationen, sagt Heinemann, die sich unter anderem mit digitalen Medien und der Prävention religiös motivierter Extremismen beschäftigt. Sowohl was die Frage von Schönheitsidealen angeht als auch politische Äußerungen – Debatten würden über Medien wie Twitter deutlich härter geführt.
Extremistische Strömungen nutzten dies gezielt aus, um Debatten in eine bestimmte Richtung zu treiben und zu manipulieren, sagt Heinemann. Harte Diskussionen, Richtungsstreitigkeiten, Identitätskultur auf Twitter, und alles in hoher Geschwindigkeit – bei Jugendlichen sei das Bewusstsein dafür noch nicht so ausgebildet.
Ähnlich sieht es Christian Scherg. Er beschäftigt sich mit Krisenkommunikation und gilt als Internet- und Reputationsexperte. „Was wir früher an Klowände geschrieben haben, schreiben Jugendliche heute ins Internet“, sagt er. Selbst wenn Posts vom eigenen Account gelöscht würden, habe jeder andere Internetnutzer die Möglichkeit, sie per Screenshot zu archivieren und auch als Waffe zu verwenden. Kinder und Jugendliche, die heute aufwachsen, hätten häufig eine „lückenlose digitale Biografie“, wenn sie nicht bedacht haben, wo und wie sie etwas veröffentlichen.
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Zeitgeist spielt bei Posts auch eine Rolle
Ein Problem dabei, so Scherg: „Der Zeitgeist ändert sich.“ Was heute als völlig okay zu posten gilt, mag in fünf oder 15 Jahren ganz anders aufgenommen werden. Alte Posts könnten aus dem Zusammenhang gerissen und gegen jemanden verwendet werden, und das gelte es schon bei der Veröffentlichung zu berücksichtigen.
Wie geht man aber mit einem Shitstorm konkret um, wie ihn Heinrich nach eigener Aussage erlebte? „Abschalten, abschirmen, nicht lesen“, sagt Scherg. Gefühlt stehe man in solchen Momenten ganz alleine da, weshalb es wichtig sei, von anderen abgeschirmt und geschützt zu werden. Gleichzeitig empfiehlt er, den entsprechenden Kanal nicht zu schließen. Dort habe man die Sache im Griff, könne Beiträge löschen, melden, kommentieren und gegebenenfalls auch überlegen, gegen welche Beiträge man juristisch vorgehen könne.
Doch ist eine konstruktive Diskussionskultur in sozialen Medien überhaupt möglich? „Es gibt auch gehaltvolle Diskussionen auf Twitter, wenn Diskussionspartner das auch wollen“, sagt Heinemann. Und die gesamtgesellschaftliche Aufgabe, diese zu ermöglichen, bleibe. „Social Media wird nicht weggehen.“
Sie fordert vermehrte Medienpädagogik, die – vereinfacht gesagt – nicht erklärt, wie ein Handy bedient wird, sondern Kenntnisse über mediale Strukturen vermittelt und sich beispielsweise mit der Frage beschäftigt, wie eine kommunikative Kompetenz ausgebildet wird. Diese sei auch beim Stammtisch oder auf dem Marktplatz nötig, und der Unterschied zu Debatten im Internet gar nicht so groß. „Wir brauchen Vorbilder, die in der Sache hart diskutieren, aber einen fairen Debattenton anschlagen.“ Dies sei nicht allein Aufgabe von Jugendlichen.
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Expertin Heinemann sieht auch den Journalismus in der Pflicht
Auch den Journalismus sieht Heinemann in der Pflicht, ethisch auf derartige Diskussionen zu blicken: „Welchen Jugendsünden geben wir Raum und Spin? Sind das Dinge, die es wert sind, ins Licht der Öffentlichkeit zu kommen? Von wem wird das ausgelöst?“ Diese Fragen müssten sich auch Journalistinnen und Journalisten stellen.
Beide sehen in der Weiterentwicklung der Debattenkultur eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe: „Wir müssen unsere Meinung ändern können“, sagt Scherg. Insbesondere für Kinder und Jugendliche gehöre es zur Persönlichkeits- und Meinungsfindung dazu, auch mal die falsche Meinung gehabt zu haben.
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„Wo ist das in den Lehrplänen? Wo ist Raum für Identitätsarbeit?“, fragt auch Heinemann. Fälle wie der von Sarah-Lee Heinrich seien für die einzelne Person tragisch. Man könnte sie jedoch zum Anlass nehmen, dies explizit zum Thema zu machen – was Heinrich übrigens selbst vorgeschlagen hat. Dies wäre die beste Form der Prävention, so Heinemann.