In der „Platte“ leben: Das wurde lange Zeit spöttisch, wenn nicht sogar verächtlich betrachtet. Hunderttausende Menschen, die sich in Berliner Stadtteilen wie Marzahn oder Hellersdorf, aber auch in Lichtenberg oder in Kommunen an der Peripherie der Stadt wohlfühlen, wurden so diffamiert. Despektierlich ist über die schlichten, großen Häuserblocks geschrieben und geredet worden. Doch nun scheint sich - aus Wohnungsnot geboren - ein Imagewandel anzudeuten.
Ich bin in einem in den 1970ern schnell hochgezogenen, industriell vorgefertigten Plattenbau groß geworden. Allerdings hatte das damals keinen abschätzigen Klang, sondern es hieß einfach Neubauwohnung. Wenn man zu DDR-Zeiten so eine bekam, war das Grund zur Freude. Warmes Wasser „aus der Wand“, kein Kohlenschleppen und Asche-Runterbringen mehr. Gerade das war auch eine Entlastung für uns Kinder. Und wir hatten nun jeder ein eigenes Zimmer sowie die ganze Familie einen Balkon für Blumen und Weitblick. Die Wohnung war quadratisch und praktisch, aber auch preiswert. Zwischen den Blöcken hingen die Mütter die Wäsche auf und ich kannte alle Nachbarskinder aus den Nebenaufgängen. Manche konnte ich partout nicht leiden, mit anderen ging ich morgens zusammen zur Schule.

In den Höfen sind die Bäume groß geworden
Darüber, dass die Zimmer klein waren, die Räume niedrig und die Gestaltungsmöglichkeiten eher beschränkt, sahen wir hinweg. Hunderttausende leben bis heute in solchen Wohnblöcken, haben sich eingerichtet, freuen sich darüber, dass nach Jahrzehnten große Bäume in den Höfen stehen. Und darüber, dass viele der Häuser inzwischen ansprechend modernisiert wurden. Grundrisse wurden individueller. Über die früher nur sehr einfach verkleideten Kabelschächte kann man heute nicht mehr die Nachbarn hören, so wie es einst nervte. Bessere Dämmung und frische Farben kamen hinzu.
Nun hat Kanzler Olaf Scholz Bemerkenswertes festgestellt: „Für ganz Deutschland kann man sagen: Wir brauchen wahrscheinlich 20 neue Stadtteile in den meistgefragten Städten und Regionen – so wie in den Siebzigerjahren“. Das regte der Regierungschef auf einer Veranstaltung der Zeitung Heilbronner Stimme an. Plattenbau sagte er zwar nicht, aber etwas in der Art dürfte ihm vorschweben, wenn er ein „Umdenken“ fordert. Man brauche Bauland und es müsse zukünftig auch wieder höher gebaut werden, um den Bedarf an Wohnungen zu decken. Wer dachte da wohl nicht an Marzahn, vielleicht Leipzig oder auch Gropiusstadt. Die Siedlungen schafften Wohnungen für viele Menschen. Zwar auch das ein oder andere soziale Problem, aber zumindest hatten die Menschen ihre eigenen vier Wände. Und dadurch vielleicht mehr Geborgenheit.
Die Abrissbirne wütete in verlassenen Plattenbauten
Dann kamen die 90er und die 2000er Jahre. Viele zogen aus dem Osten zu Arbeitsplätzen im Westen des Landes. Zurück blieben vereinsamte Wohnblöcke mit Fenstern wie blinde Augen. Rückbau wurde zum Zauberwort. Tausende Plattenbau-Wohnungen fielen in Berlin und den ostdeutschen Ländern der Abrissbirne zum Opfer. Sehr kurzsichtig gedacht, könnte man aus heutiger Sicht schlaubergern. Denn inzwischen würden sich viele über eine Wohnung in einem dieser Häuser freuen. Aber Weitsicht über Jahrzehnte von Politik zu erwarten, ist wahrscheinlich zu verträumt. Gut, dass Scholz jetzt umdenkt. Denn der Sozialdemokrat sagte auch, dass er zwar damit einverstanden sei, wenn Menschen beim Kauf einer Wohnung 9.000 bis 11.000 Euro oder bei der Miete 18 bis 21 Euro pro Quadratmeter zahlen wollten. Die Frage sei aber, wie viele Menschen sich dies auch leisten könnten. Gute Frage! Vielleicht etwas spät gestellt.
In der Küche stand die Duschkabine „Ahlbeck“
Meine erste eigene Wohnung in Berlin lag in einem maroden Hinterhof in Mitte. Mit Kachelofen, Kohlenkeller und Aschekasten. In der Küche gab es eine Duschkabine vom Typ „Ahlbeck“. Wenn ich in ihr stand und die elektrische Pumpe unter meinen Füßen unheimlich brummte, sehnte ich mich manchmal in die Neubauwohnung meiner Eltern zurück.
Claudia Pietsch schreibt jede Woche im KURIER über Berliner und Brandenburger Befindlichkeiten.
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