„Wir im Osten“

In der DDR war Streik nur gut, wenn er im Westen passierte

Die momentanen Arbeitskämpfe erzürnen viele. Doch es gibt ein Recht darauf im Grundgesetz. Wie notwendig das ist, müssten vor allem die Ostdeutschen wissen. 

Author - Norbert Koch-Klaucke
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Streikende Lokführer stehen im Januar vor dem Leipziger Hauptbahnhof. Die Menschen im Osten wissen, wie wichtig das Grundrecht auf Arbeitskampf ist. 
Streikende Lokführer stehen im Januar vor dem Leipziger Hauptbahnhof. Die Menschen im Osten wissen, wie wichtig das Grundrecht auf Arbeitskampf ist. Jan Woitas/dpa

„Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will!“ Die Zeile kennt fast jeder. Sie stammt aus einem Arbeiterlied des revolutionären Dichters Georg Herwegh von 1863, als der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein gegründet wurde, der Vorläufer der SPD. Viele schöne Worte, die eigentlich nur eins meinen – Streik!

Ein Wort, das viele Menschen, mich eingeschlossen, momentan mächtig auf die Palme bringt, wenn Lokführer tagelang die Arbeit niederlegen und uns damit das Leben schwermachen. Kaum fuhren S-Bahn und Co wieder, brachten Sicherheitsleute den Flugverkehr am BER zum Erliegen. Und nun sorgen am Freitag auch noch die Bediensteten der Berliner Verkehrsbetriebe wieder für Stillstand im öffentlichen Nahverkehr.

Gut, wir Berliner sind streikerprobt. Trotzdem treibt es uns die Zornesröte ins Gesicht, wenn wir lange Umwege in Kauf nehmen müssen, um etwa zur Arbeit zu kommen, nur weil Busse oder Bahnen nicht mehr fahren. Und wenn das in regelmäßigen Abständen passiert, geht schnell die Solidarität mit denen verloren, die für mehr Lohn und bessere Arbeitsbedingungen kämpfen.

Auf der anderen Seite bewundere ich den Lokführer-Gewerkschaftschef Claus Weselsky. Ein Mann aus dem Osten, der massiv auf das im Grundgesetz der Bundesrepublik verbriefte Recht auf Streik pocht und es auch durchsetzt. Wie wichtig das ist, sollten eigentlich alle wissen, die wie ich in der DDR aufgewachsen sind. Denn im SED-Staat war ein Streik nur dann gut, wenn er im Westen passierte.

Ich erinnere mich noch, wie damals in der staatlichen Propaganda ausgeschlachtet wurde, wie sich die „gebeutelte Arbeiterklasse“ im kapitalistischen System für ihre Rechte gegen die „gierigen Ausbeuter“ in den Chefetagen der Konzerne erhob. Nur im eigenen Land waren Streiks tabu. Da herrschte ja angeblich die Arbeiterklasse.

GDL-Chef Claus Weselsky bei einer Kundgebung vor streikenden Lokführern am Hauptbahnhof in Dresden.
GDL-Chef Claus Weselsky bei einer Kundgebung vor streikenden Lokführern am Hauptbahnhof in Dresden.Robert Michael/dpa

Sogar in der DDR gab es ein Streikrecht – doch dann kam der 17. Juni 1953

Ich war erstaunt, als ich las, dass es in der DDR anfangs sogar ein Streikrecht gab. 1949 wurde es in die Verfassung der gerade gegründeten Deutschen Demokratischen Republik geschrieben – und am 17. Juni 1953 mit Füßen getreten. An jenem Tag, als die Bauarbeiter in der damaligen Ost-Berliner Stalinallee (heute Karl-Marx-Allee) ihre Werkzeuge niederlegten, um zunächst gegen die Normerhöhungen des SED-Staates zu demonstrieren. Etwa eine Million Menschen in der DDR schlossen sich diesem Generalstreik an.

Panzer rollten an, um am 17. Juni 1953 den Volksaufstand in der DDR zu beenden, der mit einem Streik begann. In Berlin wurde im vergangenen Jahr mit einer Fotoschau daran erinnert.
Panzer rollten an, um am 17. Juni 1953 den Volksaufstand in der DDR zu beenden, der mit einem Streik begann. In Berlin wurde im vergangenen Jahr mit einer Fotoschau daran erinnert.Markus Wächter/Berliner KURIER

Auf ihren friedlichen Protest, der sich nun auch gegen die Bevormundung durch den Staat richtete, antwortete die Staatsmacht mit Gewalt. Die DDR-Führung machte aus dem Arbeiteraufstand eine Konterrevolution, verhängte das Kriegsrecht und beendete mithilfe von sowjetischen Panzern brutal den Arbeitskampf. 50 Tote gab es, mehr als 15.000 Menschen wurden festgenommen, 1526 von ihnen kamen vor Gericht, viele landeten im Gefängnis. Am Ende wurde 1968 mit Unterstützung der staatlichen Einheitsgewerkschaft FDGB das Streikrecht aus der Verfassung der DDR gestrichen.

Daran sollten wir beim nächsten Streik denken, bevor wieder geschimpft wird. Denn es ist gut, dass wir hierzulande ein Recht auf Arbeitskampf haben und es auch nutzen können, ohne eine brutale staatliche Gegenwehr fürchten zu müssen. Und noch etwas dürfen wir nicht vergessen: Nicht nur BVG und Bahn sind Arbeitgeber, die sich bei den Themen mehr Lohn (gerade jetzt so wichtig, wo alles teurer wird) und bessere Arbeitsbedingungen für ihre Angestellten querstellen. Das tun Chefs in anderen Unternehmen auch.

Norbert Koch-Klaucke schreibt jeden Freitag im KURIER über Geschichten aus dem Osten.
Kontakt in die Redaktion: wirvonhier@berlinerverlag.com