Kolumne „Wir von hier“

Holla, dieses eine blaue Kleid ...

Als unsere Autorin ein neues Kleidungsstück kaufen wollte, kam es zu einer unerwarteten Begegnung    

Author - Claudia Pietsch
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Das richtige Kleid zu finden, ist nicht so einfach.
Das richtige Kleid zu finden, ist nicht so einfach.agefotostock/imago

Dieses eine blaue Kleid wollte ich unbedingt haben. Ja, klar gibt es überaus Wichtigeres als Klamotten, aber dieses Kleid sollte es unbedingt sein. Im Netz hatte ich Bilder davon bewundert, seine schlichte Lässigkeit mit Taschen in den Seitennähten, in denen man gemütlich die Hände versenken kann. Ganz zu schweigen von dem Maxirockteil, das ganz retro aussieht und weit schwingt. Also machte ich mich mit dem Fahrrad auf zu einer Filiale der Textilkette, auf deren Internetseite ich den Dress entdeckt hatte. Mit diesem Kleid wird der Sommer fabelhaft, meinte ich zu wissen.

Schnell fand ich das Objekt meiner Begierde und probierte es in einer Kabine an. Es sah an mir genau so aus, wie ich es erträumt hatte. In der Umkleide neben mir wurde unterdessen wispernd über etwas beraten, verstehen konnte ich nicht, was gesagt wurde. Als ich heraustrat, um mich vor dem großen Spiegel zu betrachten, sagte die weibliche Stimme von nebenan etwas lauter: „Vielleicht kennt die Frau sich aus?“

Ein Kleid wie eine groß geblümte Gardine

Ich drehte mich um und erblickte eine Frau in einem Alptraum aus groß geblümter Gardine. Was offenbar ein Kleid sein sollte, sah nicht aus, saß nicht und schmückte schon erst gar nicht. Die Frau blickte mich verunsichert an. Ich fragte, ob ich helfen könne. Erst jetzt nahm ich den jungen Mann wahr, der sich auf die Bank an der Kabinenreihe setzte und abwartete. 

Er war so angezogen, wie Männer es eben sind, wenn sie am Morgen das ergreifen, was ihnen in die Hände fällt. Der Mann mit dem beigen Basecap sah freundlich aus, aber Modekompetenz war nicht das Erste, das ich ihm unterstellen würde. Er sagte nur leise, er sei der Unterstützer der Frau. Näheres dazu blieb offen – ich betrachtete die Frau näher und konnte auf den ersten Blick nicht erkennen, wofür sie die Unterstützung im Alltag benötigte. Vielleicht aber ist es eine Beeinträchtigung, die im Verborgenen liegt, vermutete ich.  

Wegen des Kleides ein schlechtes Gewissen

In einem aber war ich mir ganz sicher – beim Kleiderkauf konnte die Frau auf jeden Fall Hilfe gebrauchen. Ich ließ mir alle Gewänder, die sie anprobieren wollte, zeigen. Ehrlich sagte ich, dass mir keines davon wirklich gefalle, räumte aber auch ein, welches aus meiner Sicht noch das Beste sei. Dann ließ ich die beiden zurück, eine Verkäuferin, die vielleicht hätte helfend eingreifen können, war weit und breit nicht zu sehen. Ich kaufte mein Kleid und verließ den Laden. 

Draußen auf der Straße ging mir die Frau nicht aus dem Sinn, ein schlechtes Gewissen klopfte an. Wie kannst Du nur so sein und die Frau einfach mit ihrem Problem und dem „Unterstützer“ allein stehen lassen? Das geht so nicht, schimpfte ich mit mir, und kehrte also in das Geschäft zurück. Die beiden waren neben einem Kleiderberg noch immer mit Umziehen beschäftigt. Sie hatten ein weiteres Kleid gefunden, das ich zumindest akzeptabel fand. Ich fragte aber, ob ich noch einen Vorschlag machen dürfe. Beide nickten. Aus der Ecke, in der die Exemplare dieses einen blauen Kleides hingen, holte ich eines für die Frau. Sie schlüpfte hinein, sah wunderbar aus und strahlte mich an. Nun erst konnte ich mich wirklich verabschieden.   

Ein blaues Kleid mit weit schwingendem Rock bescherte unserer Autorin ein besonderes Erlebnis. (Symbolfoto) 
Ein blaues Kleid mit weit schwingendem Rock bescherte unserer Autorin ein besonderes Erlebnis. (Symbolfoto) imagebroker/imago

Ich radelte nach Hause und pfiff leise vor mich hin. Diesmal stört es mich nicht, dass eine andere Frau im Sommer wahrscheinlich das gleiche Kleid tragen wird wie ich.   

Claudia Pietsch schreibt montags im KURIER über Berliner und Brandenburger Befindlichkeiten.
Kontakt zur Redaktion: wirvonhier@berlinerverlag.com