Liebe Leserin und lieber Leser, vor ein paar Tagen traf ich zufällig den Sohn einer ehemaligen Nachbarin. Ich kenne ihn seit er Sandburgen im Buddelkasten baute und übte, Dreirad zu fahren. Wir erkannten uns sofort und freuten uns über das Wiedersehen. Doch schon im zweiten Satz sagte er mir, dass er nun erwachsen sei und damit gesiezt werden möchte. Ich schluckte kurz, wechselte umgehend ins höfliche „Sie“ und merkte, wie die Anrede eine stille Distanz aufbaute.
Duzen oder siezen? Inzwischen empfinde ich das Du als völlig normal
Dabei fiel mir ein, dass ich zu Beginn meiner beruflichen Laufbahn – mit meinen 1,55 lief ich sowieso oft unter dem Radar einzelner Kollegen – empört war, wenn mich jemand einfach duzte. Das hat sich als Problem längst erledigt. Ich gebe gern zu, dass ich im Kollegenkreis und bei Feiern das Du als völlig normal empfinde. Es signalisiert Vertrautheit und Nähe – aber will man eigentlich immer Nähe? Darauf ein klares Nein. Denn es gibt Situationen, in denen brauche ich Distanz. Das bestätigt mir auch ein guter Freund, der 60+ ist und eine Leitungsfunktion hat. Als ich ihn fragte, wie er es hält, antwortete er, dass er streng darauf achte, gerade junge Kollegen – einschließlich Auszubildender – nicht zu duzen, damit diese sich wertgeschätzt fühlen.
„Nach wie vor gilt: Wer sein Gegenüber mit Sie anredet, zeigt sich respektvoll“, so seine kluge Antwort, und er verweist auf Höflichkeits-Altmeister Knigge, der da schrieb, dass jede volljährige Person ein Recht darauf habe, mit Sie angesprochen zu werden. Nein, das ist nicht aus der Mode.

Eine gängige Methode, die sich mehr und mehr durchsetzt, ist die Version: Vorname und Sie. Das finde ich gut und praktikabel, gerade im Job. Hier sind die Hierarchien in den letzten Jahren flacher geworden. Der unnahbare Chef in Nadelstreifen im Büro mit Alleinvertretungsanspruch ist zur Ausnahme geworden und kommt garantiert nicht auf die Liste der bedrohten Arten. Menschen arbeiten immer mehr gleichberechtigt zusammen, dabei geht das freundschaftlich-vertraute Du leicht über die Lippen.
In manchen Firmen wird das Du wie Arbeitszeitregelungen angeordnet
Auch noch bei Auseinandersetzungen, Fehlersuche und Gehaltsverhandlung? In manchen Firmen wird das Du wie Arbeitszeitregelungen angeordnet. Wie verhält man sich da eigentlich, wenn man Distanz möchte und dieser Wunsch nicht respektiert wird? Man schaut voller Sehnsucht in englischsprachige Länder, die dank „you“ gar nicht wissen, was wir da für ein Problem haben, das nicht nur ein sprachliches ist. Denn wenn das lockere Du nicht auf den Beinen Sympathie (wenigstens ein bisschen) und Vertrauen steht, wirkt es falsch wie Erdbeeren im Dezember. Und dann gibt es noch ein anderes Du: Ganz selbstverständlich werden wir in der Werbung, in Internet-Foren, bei Ikea oder H&M geduzt, ganz gleich, ob wir mit Tretroller oder Rollator unterwegs sind.
Du oder Sie? Ich finde, es gibt keine allgemeingültige Antwort. Es gibt nur Situationen, in denen das eine besser ist als das andere. Vertrauen verlangt mehr als den Wechsel vom Sie zum Du. Wir brauchen deshalb das beherzte Du genauso wie das distanzierte Sie. In der einen Situation ist Lässigkeit fehl am Platz, in der anderen baut sie Brücken zum Ufer der Sympathie. Mein Bauch hilft mir bei der Du-Sie-Entscheidung. Höflichkeit und Wertschätzung für das Gegenüber sind dabei gut funktionierende Ratgeber.
Ihre Sabine Stickforth
KURIER-Autorin Sabine Stickforth schreibt jede Woche über das Leben über 50 in Berlin.
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