Ich habe einen langjährigen Freund, den ich nur einmal im Jahr sehe, doch dann wohnen wir für mehrere Wochen miteinander in der gleichen Wohnung. Er ist starker Raucher, trägt einen grünen Mantel und einen großen Zylinderhut und hat einen festen Platz auf meiner Schrankwand. Sein Name ist Herr Schinke – und er ist ein Räuchermännchen! Volkskunst aus Holz gehört für viele Menschen vor allem im Osten Deutschlands zu den Weihnachtstraditionen, auch für mich. Herr Schinke ist mein größter Weihnachts-Schatz. Doch er kommt nicht, wie man vielleicht vermuten könnte, aus einer Werkstatt im Erzgebirge – sondern ist ein Beispiel für die erfinderische und kreative DDR.
Menschen in der DDR erweckten die Weihnachtswelt zum Leben
Schwibbögen, Nussknacker, Weihnachtspyramiden und Räuchermännchen – diese Dinge haben ihr Zuhause im Erzgebirge. Die Holzkunst blickt in dem Landstrich im Süden von Sachsen auf eine lange Tradition zurück, ist auch mit dem Weihnachten in der DDR fest verbunden. Doch während die Räuchermännchen in vielen Werkstätten noch heute professionell hergestellt werden, gibt es im Osten noch eine ganz andere Weihnachtswelt, die von den Menschen in der DDR zum Leben erweckt wurde – auf den eigenen Drehbänken. Volkskunst aus dem Keller oder dem Gartenhaus.
Herr Schinke ist dafür ein gutes Beispiel: Der Räuchermann ist eine wahre Seltenheit. Grüner Mantel, Nieten als Knöpfe, dazwischen goldene Kordeln. Ein dichter Haarschopf quillt unter seinem Zylinderhut hervor. Die Augen sind wach und beobachten, was in der Weihnachtsstube um ihn herum passiert. Sein Schmuckstück ist die große Pfeife, die er in der Hand trägt. Und wenn aus dem Mund der nach Weihrauch duftende Qualm quillt, dann ist die Weihnachtszeit gekommen.

Räuchermann Herr Schinke ist ein Stück Geschichte der DDR
Schon in der Kindheit war der Tag, an dem Herr Schinke geweckt wurde, der schönste des Jahres. Er wurde aus der Weihnachtskiste befreit, wo er – eingewickelt in Küchenpapier – sanft gebettet das ganze Jahr schlafen durfte. Manchmal gab es sogar ein kleines Küsschen auf das kalte Holz, so groß war die Freude. Und auch das gehört zur Tradition: Jedes Jahr lasse ich mir von meinen Eltern die Geschichte von Herrn Schinke erzählen – sie ist auch ein Stück Weihnachts-Historie der DDR.

Obwohl die Volkskunst aus dem Erzgebirge nämlich untrennbar mit dem Weihnachten der DDR verbunden ist, war es gar nicht so leicht, an Räuchermännchen, Nussknacker und Pyramiden zu kommen. Der Grund: Nicht wenige der schönen Stücke, die beim VEB Kombinat Erzgebirgische Volkskunst Olbernhau entstanden, waren für den Export gedacht. Man musste Kontakte haben, erzählen mir meine Eltern. Die Weihnachtspyramide etwa, die sich jahrelang auf dem Stubentisch meiner Oma drehte, kam nur über „Vitamin B“. Sie arbeite bei der Handelsorganisation (HO) der DDR – und reservierte einer Bekannten Schinken und Rosenthaler Kadarka. Im Gegenzug verkaufte die ihr die schöne Weihnachtspyramide.
Wer Holzkunst wollte, brauchte in der DDR Kontakte
Auch bei Herrn Schinke spielten Kontakte eine wichtige Rolle. Meine Mutter arbeitete in einer Grundschule, eine ihrer Kolleginnen war die Lehrerin Frau Schinke. Ihr Mann fertigte jedes Jahr in der Weihnachtszeit die Räuchermänner auf seiner Drehbank im Keller. Ein Nebenerwerb, der sich lohnte. Pro Saison fertigte er eine kleine Stückzahl, verkaufte sie. „Man musste lange warten, bis man dran war“, sagt meine Mutter. Was der Räuchermann damals kostete, weiß sie nicht mehr. Aber: „Es war für die damalige Zeit viel Geld.“ Die Nachfrage bestimmte auch hier den Preis.

Herr Schinke stand schon in der DDR in der Stube meiner Eltern
Herr Schinke stand fortan in der Stube – ich weiß nicht, bei wem noch. Unbekannt ist, wie viele Exemplare es gibt. Der Räuchermann Herr Schinke ist für mich untrennbar mit der Weihnachtstradition verbunden – und der Schmerz nach meinem Auszug war entsprechend groß. Denn natürlich blieb das gute Stück im Elternhaus zurück, fest verwurzelt am immer gleichen Platz auf der Schrankwand. Die wohl größte Weihnachtsüberraschung ereilte mich vor ein paar Jahren: An Heiligabend bei meiner Familie packte ich ein Päckchen aus. Und darin lag … Herr Schinke.

Doch der Räuchermann, den ich in der Hand hielt, stand zeitgleich auf dem Schrank. Wie konnte das sein? Meine Mutter hatte tatsächlich mit dem Sohn von Herrn Schinke verhandelt – ein bisschen wie in der DDR. Er hatte die Drehbank seines Vaters angeschmissen. Die alten Farben herausgekramt. Und mir einen ganz eigenen Herrn Schinke angefertigt, einen Zwilling des Räuchermanns meiner Eltern. Ein Geschenk, bei dem ich mir ein Tränchen verdrücken musste. Seit ein paar Jahren kann ich nun also in der Adventszeit meinen eigenen Herrn Schinke auspacken. Und möglicherweise begrüße ich ihn auch heute noch mit einem Küsschen. Wenn auch nur heimlich.




