Ärztin und Seelsorgerin

Sie ist der Engel der Straßentiere

Viele Obdachlose in Berlin haben Hunde. Tierarztkosten können sie sich oft nicht leisten. Eine Berliner Tierärztin versorgt die Tiere deshalb seit vielen Jahren kostenlos. Persönliche Ratschläge gibt es dazu.

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Tierärztin Jeanette Klemmt steht während einer Sprechstunde in ihrer mobilen Tierarztpraxis und hält ihren Hund Amanda auf dem Arm. Sie engagiert sich für das Projekt HundeDoc, das aus Spenden finanziert wird. 
Tierärztin Jeanette Klemmt steht während einer Sprechstunde in ihrer mobilen Tierarztpraxis und hält ihren Hund Amanda auf dem Arm. Sie engagiert sich für das Projekt HundeDoc, das aus Spenden finanziert wird. Monika Skolimowska/dpa

Skittelz steht auf dem Untersuchungstisch von Jeanette Klemmt und zittert. „Er ist ein nervöser und zappeliger Hund“, sagt die Tierärztin, deren schwarzer Fleecepulli voller Hundehaare ist. Sie zieht Skittelz die Lefzen auseinander und begutachtet seine Zähne. Hundebesitzerin Angie hat den kleinen schwarzen Mischling mit den Schlappohren zu Klemmt gebracht, weil er Verdauungsprobleme hat und viel jault. Zahnstein hat er auch. Als Bürgergeldempfängerin sei das Geld knapp, sagt die 21-Jährige, deswegen sei sie dankbar über den kostenlosen Service der Tierärztin.

Seit 24 Jahren kümmert sich Jeanette Klemmt schon kostenlos um die Tiere von Menschen, die ihren Lebensmittelpunkt auf der Straße haben. Das Projekt „HundeDoc“ ist bei der Stiftung SPI angesiedelt und finanziert sich ausschließlich über Spenden. Zur Gründungszeit Anfang der 2000er-Jahre waren frei laufende Hunde an den Bahnhöfen ein Problem. Immer wieder wurden Menschen gebissen oder der Verkehr gestört, weil Hunde auf die Gleise gerieten. Eine tierärztliche Versorgung vor Ort sollte für Besserung sorgen. „Das Angebot hat eingeschlagen wie eine Bombe“, sagt die 55 Jahre alte Berlinerin, die von Anfang an dabei ist.

Das Projekt HundeDoc behandelt hauptsächlich Tiere mittelloser Jugendlicher und junger Erwachsener, die überwiegend auf der Straße oder im öffentlichen Raum leben.
Das Projekt HundeDoc behandelt hauptsächlich Tiere mittelloser Jugendlicher und junger Erwachsener, die überwiegend auf der Straße oder im öffentlichen Raum leben.Monika Skolimowska/dpa

Ihre Behandlungen führt sie in einem ehemaligen Rettungswagen durch, der zu einem Behandlungs- und Operationsfahrzeug umgebaut wurde. Wöchentlich fährt sie mit dem blau-weißen Wagen vier verschiedene Standorte im Stadtgebiet an. In ihrem Fahrzeug kann sie auch Kastrationen und kleinere Operationen durchführen. Bei ihrer Kundschaft handelt es sich vor allem um Obdachlose, die sich eine Tierarztbehandlung nicht leisten können. „Ich kann manchmal nur erahnen, was die Tiere für einen Stress erleben“, sagt Klemmt. Viele der Halter nähmen Drogen oder hätten psychische Probleme. „Die sind schon überfordert mit der eigenen Existenz.“ Das wirke sich auch auf die Psyche der Tiere aus.

Bis zu 10.000 Obdachlose auf Berlins Straßen

Wie viele Obdachlose in Berlin leben, ist schwer zu sagen. Nach Angaben der Sozialverwaltung fand die letzte Zählung 2020 statt. Damals wurden knapp 2000 Menschen gezählt. Allerdings seien dabei sicher nicht alle Menschen erfasst worden, wie ein Sprecher der Behörde erklärt. Schätzungen von Einzelpersonen, Trägern und Verbänden reichten von 2000 bis 10.000 obdachlosen Menschen. Laut Ina Zimmermann, Referentin für Wohnungslosenhilfe bei der Diakonie, kann nicht gesagt werden, wie viele davon Tiere haben. „Es sind viele Hunde, aber es gibt auch eine ganze Reihe anderer Haustiere, die von der Wohnungslosigkeit ihrer Herrchen und Frauchen mitbetroffen sind“, sagt Zimmermann, zum Beispiel Katzen oder Ratten.

Über die Tiere die Menschen erreichen

Angie lebte mit 13 für etwa zwei Jahre auf der Straße und nahm Drogen. Heute konsumiere sie „nur noch Weed“ (Marihuana) und habe einen festen Wohnsitz, sagt die 21-Jährige. Klemmt ermöglicht ihr trotzdem weiterhin eine kostenlose Behandlung. „Sie ist ja noch nicht in trockenen Tüchern und braucht noch Unterstützung.“ Viele ihrer Klienten kämen aus einem wackeligen Zuhause. Über die Tiere sei es möglich, die Menschen zu erreichen, sagt die 55-Jährige. Zusätzlich zur tierärztlichen Behandlung gibt Jeanette Klemmt deswegen gerne private Tipps und Lebensweisheiten mit an die Hand und erkundigt sich etwa nach beruflichen Plänen.

Der dreijährige Hund Skittelz liegt während einer Sprechstunde in der mobilen Tierarztpraxis der Tierärztin Jeanette Klemmt. 
Der dreijährige Hund Skittelz liegt während einer Sprechstunde in der mobilen Tierarztpraxis der Tierärztin Jeanette Klemmt. Monika Skolimowska/dpa

Zimperlich ist sie dabei nicht und schimpft auch mal, wenn ihr etwas nicht passt. „Ich weiß, ich bin manchmal ein bisschen ruppig“, sagt Klemmt. Aber man müsse die Menschen auch ein bisschen fordern, nur „ei ei“ machen, funktioniere nicht. Als Tierärztin sehe sie sich als Allrounder – sie sei nicht nur Medizinerin, sondern auch Seelsorgerin. Die Tiere seien dabei ihre größte Motivation. Klemmt hat selbst zwei Hunde, die sie bei all ihren Fahrten begleiten und im Fahrerhäuschen warten. Sie wisse, wie wichtig die Tier-Mensch-Beziehung sei.

Laut einer Sozialarbeiterin, die für eine Jugendhilfeeinrichtung in Berlin arbeitet, hätten wahrscheinlich noch viel mehr junge Obdachlose Tiere, wenn sie es sich leisten könnten. „Der Hund ist ein Begleiter, der immer da ist, der alles mit ihnen teilt, sie aber nicht korrigiert.“

Tierärztin Jeanette Klemmt (l.) untersucht in ihrer mobilen Tierarztpraxis den dreijährigen Hund Skittelz und spricht dabei mit der 21-jährigen Angie, der Besitzerin des Tieres. 
Tierärztin Jeanette Klemmt (l.) untersucht in ihrer mobilen Tierarztpraxis den dreijährigen Hund Skittelz und spricht dabei mit der 21-jährigen Angie, der Besitzerin des Tieres. Monika Skolimowska/dpa

Auch für Angie ist Skittelz „das Wichtigste auf der Welt“. „Wenn ich kann, gebe ich mehr Geld für ihn aus“, sagte die 21-Jährige. Hundefutter kaufe sie meistens online und in großen Säcken, das sei günstiger. Am Ende der Untersuchung verschreibt Klemmt dem Hund ein Medikament gegen Giardien. Die Erreger verursachen unter anderem Durchfall und Magenkrämpfe. Angie ist erleichtert, dass es nichts Schlimmeres ist. „Es ist einfach ein schönes Gefühl, dass ich ein Stück weit helfen kann“, sagt Klemmt. Die meisten ihrer Klientinnen und Klienten begleite sie das ganze Tierleben lang. ■