„Augenblicke mit Icke“, so haben wir den letzten Artikel zu diesem wunderbaren Projekt, das seit 15 Jahren Berliner Stadtgeschichte schreibt, betitelt. Jeden Tag gibt es neue Gelegenheit für neue Augenblicke mit den Menschen, die Berlin ausmachen. Nun ist ein neuer Band der Reihe „Pieces of Berlin“ entstanden.
Gegen die Anonymität der Großstadt
Das bereits dritte Buch des Fotografen Florian Reischauer zeigt erneut Berliner und Berlinerinnen ganz ohne Schnickschnack in einem einzigen Moment ihres Alltags. Zwischen 2019 und 2023 haben die Pandemie, Kriege und noch immer der Mietenwahnsinn die Menschen bewegt. Ihr Herz tragen die Berliner trotz allem auf der Zunge und die Schnauze würden sie sich niemals verbieten lassen. Wer sich nur die Mühe macht, die Einwohner der Stadt zu fragen, bekommt Antworten, die der Anonymität der Großstadt den Kampf ansagen.
Manchmal gehen Fotograf und Fotografierter schnell wieder auseinander, manchmal reden sie noch eine Weile über das, was uns hier verbindet. Die Frage an die Menschen ist immer die gleiche: Was verbindet dich mit Berlin, was magst du an der Stadt, was nicht? Bei der Auswahl seiner Protagonisten gibt sich Florian Reischauer alle Mühe, eben nicht wählerisch zu sein. Mittlerweile habe er über 1000 Menschen mit einer alten Agfa Isolette abgelichtet, erzählt er.
Auf seinen Streifzügen fotografiert Florian Reischauer nicht nur Menschen, sondern auch Stadtlandschaften wie hier am Fernsehturm am Berliner Alexanderplatz. Florian Reischauer
„Es gehört Mut und Offenheit dazu, bei dem Projekt mitzumachen“, sagt Florian Reischauer. Doch bisher habe sich noch jeder Befragte, jede Fotografierte gut wiedergegeben gefühlt. Doch mit Erwartungshaltungen ist das so eine Sache. „Ich bin ständig überrascht“, sagt Reischauer, der mehrmals im Monat für seinen Blog Pieces of Berlin in den verschiedensten Kiezen unterwegs ist. Blickachsen verändern sich, die Stadt wächst in die Höhe, wo neulich noch eine Brache war, steht heute schon ein Fundament.
Manchen gehen die Veränderungen zu schnell, ist aus den Interviews herauszulesen, andere wiederum sind gerade wegen der vielen Möglichkeiten, die die Stadt bietet, hier. Das Langzeitprojekt „Pieces of Berlin“ sieht Reischauer auch als Gegengewicht zur Schnelllebigkeit unserer Zeit.
Wer also aus seiner Blase heraus will und Augenblicke mit völlig Fremden, die ihren ganz persönlichen und authentischen Blick auf die Stadt teilen, dem sei das Buch „Pieces of Berlin 19–23“ wärmstens empfohlen. Nichts sei wichtiger, als miteinander im Gespräch zu bleiben, so Florian Reischauer. Im Dorf müsse man miteinander auskommen, auch wenn man nicht einer Meinung sei. In der Stadt gehe das verloren, so Reischauer. „Das ist schade und mit meinem Projekt will ich dies aufbrechen.“
Fritz, Treptow, 2022: „Berlin ist Hektik, Stress und Aggression geworden.“
Ich bin Berliner, ein Original. In Lichtenberg aufgewachsen, 1961, kurz vor dem Mauerbau, nach Kreuzberg und jetzt im hohen Alter bin ich Treptower geworden. Früher und vor allem durch die Montagearbeit hatte ich öfter mal überlegt, aus Berlin wegzugehen, aber irgendwie hat sich nie was anderes ergeben. Für mich waren die besten Jahre hier die 70er und 80er. In den 90ern ging’s schon langsam runter. Da fing’s an mit den Wessis, den Zugereisten und Multikulti. Das hat gar nichts mit rechts und so zu tun, aber die Berliner Kultur, die Berliner Sprache ist verschwunden, das gibt es gar nicht mehr. Große Schnauze, ordinär, das ist alles weg, das ist das Traurige. Man hört nur noch andere Sprachen, Berlin ist Hektik, Stress und Aggression geworden. Es gibt hier kein Miteinander mehr, sondern nur noch ein Gegeneinander.Florian Reischauer
Chaudry, Lichtenberg, 2019: „Berlin ist der schönste Ort!“
„Ich liebe Berlin! Ich habe viele Länder und Städte kennengelernt, aber Berlin ist der schönste Ort! Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll: das Wetter, Multikulti, die Leute sind ehrlich und pünktlich, die Freiheit und Sicherheit! Vor allem auch letzteres. Ich komme aus Pakistan, in meiner Heimatstadt kann man zum Beispiel mit der Familie zusammen nicht einfach rausgehen, das ist schwierig und kann sehr gefährlich sein. 2014 bin ich zum ersten Mal nach Berlin. Freunde habe ich sofort gefunden. Das liegt wohl aber auch daran, dass ich vier Sprachen spreche – so war’s einfach zu kommunizieren.“Florian Reischauer
Frank, Marzahn, 2023: „Was mich aber schon auch stört: die Klima-Kleber.“

„Ich bin mit drei Jahren nach Berlin gezogen. Mein Vater hatte damals eine Stelle bekommen, und ja, ich würde sagen, ich bin ein Berliner. Anfangs waren wir in Friedrichshain – Ostkreuz, Warschauer Straße – und durch die Neubauten sind wir 1971 nach Marzahn. Ganz abgesehen von Berlin mag ich eigentlich die Ruhe und deswegen sind wir hier raus. Den Trubel find’ ich eigentlich nicht so gut. Und wenn mal ins Theater, dann sind wir halt in die Stadt gefahren, mit dem Auto. Wir hatten ja eins seit ’86. Aber hier draußen gab es ja auch jede Menge Jugendclubs: am Orankesee, in Hohenschönhausen und so weiter, da haben wir uns rumgetummelt, da haben wir uns wohlgefühlt. Wir waren in Berlin immer zufrieden. Zu DDR-Zeiten war’s schon gut gewesen und danach auch. Wir haben gleich nach der Wende eine Arbeit gefunden. Gott sei Dank waren meine Frau und ich nie arbeitslos. Da gibt’s nichts zu meckern. Was mich aber schon auch stört: die Klima-Kleber. Ich meine, das ist alles richtig, dass man was fürs Klima tut, aber die Straßen blockieren, dass die Leute nicht in die Arbeit kommen, das ist der falsche Weg!“Florian Reischauer
Fatameh, Marzahn, 2023: „Ich wünsche mir, in Zukunft zu arbeiten.“
„Ich bin seit acht Jahren in Berlin. Ich war gerade meine Oma besuchen hier in Marzahn, ich wohne aber an der Jannowitzbrücke. Das ist auch mein Lieblingsort in Berlin, den Alex mag ich auch und nach Brandenburg fahr’ ich auch gern raus! Eigentlich bin ich Afghanin und im Iran aufgewachsen. Deutschland ist so gut. Ich kann hier zur Schule gehen, arbeiten und alleine rumspazieren. In Afghanistan wäre all das gar nicht möglich. Es ist so schlimm dort … vor allem jetzt mit den Taliban, man kann sich das gar nicht vorstellen. Ich wünsche mir, in Zukunft zu arbeiten. Ich habe auch schon angefangen zu suchen. Ich könnte mir vorstellen, in einem Restaurant zu arbeiten. Ich verstehe Deutsch noch nicht so gut, aber ich denke, ich könnte das schaffen!“Florian Reischauer
Khan, Tempelhof, 2022: „Du hast hier immer Freiheit.“

„Ich hatte 15 Jahre lang einen indischen und einen mexikanischen Laden. Mit Corona kam leider das Aus. Danach habe ich bei DHL angefangen, aber der Job ist einfach zu hart. Da hast du bis zu 30 Kilogramm schwere Pakete, die du in die zweite, dritte Etage schleppen musst. Das macht dich mit der Zeit kaputt. Nun bin ich vor kurzem beim Taxifahren gelandet. Das ist besser, aber die Nachtschichten sind auch nicht einfach. Mir fehlt meine alte Arbeit und ich wünsche mir, dass sich wieder irgendwas in diese Richtung ergeben wird. Seit 2003 lebe ich schon hier in Berlin. Ich bin ein Berliner! Ich liebe die Stadt, das ist der beste Ort der Welt. Du hast hier immer Freiheit. Ich gehe jetzt gleich in die Moschee, für niemanden ist das hier ein Problem. In Bangladesch haben alle Religionen ein Problem miteinander. Egal ob Moslems, Hindus oder Christen, alle sind gegeneinander. Natürlich gibt es auch hier Leute, die nerven und sagen: ‚Scheiß Ausländer!‘, aber was soll ich machen, ich muss da einfach drüber stehen. Berlin ist mein Haus!“Florian Reischauer
Helga, Schöneberg, 2020: „Ich war acht Jahre alt, als ich von jenseits der Oder nach Berlin geflüchtet bin.“

„Ich war acht Jahre alt, als ich von jenseits der Oder nach Berlin geflüchtet bin. Wir hatten einen Onkel hier, zu dem wir erst mal ziehen konnten. Später dann sind wir vier Wochen vor dem Mauerbau in den Westteil rüber. Ich hab alles erlebt und erfolgreich eine Fotoagentur gegründet und geleitet. Der Winterfeldtkiez ist mein Zuhause geworden und von hier geh’ ich nicht mehr weg! Wir haben hier einen Kieztreff, dort trifft man sich abends auf ein Gläschen Wein oder zwei. Da kommen Architekten, Schwule in Lederklamotten – alle kommen da zusammen, das ist großartig! Durch den Corona-Lockdown bin ich dank meines Hundes Lilly gut gekommen. Ich hab viermal täglich draußen eine Runde mit ihr gedreht, das hat geholfen. Totenstille war das, hin und wieder ist man aber zum Glück auch wem über den Weg gelaufen! Richtig schrecklich finde ich aber den Wahnsinn, der sich in Moira abspielt. Ich finde es so traurig, dass die EU es nicht schafft, gemeinsam eine Lösung für die Menschen zu finden. Ich war ja selbst mal Flüchtling. Das belastet mich sehr. Als 2015 die Flüchtlingswelle losging, musste ich eine Therapie machen. Ich hatte meine eigenen Erfahrungen nie verarbeitet und da hat mich alles eingeholt.“Florian Reischauer
Bernd, Tempelhof, 2022: „Aber nein, ich werde auf jeden Fall nicht verbiestert! Das Leben ist schön!“
„Ich bin ein gebürtiger Thüringer, bin beruflich viel gereist und seit 30 Jahren lebe ich in Berlin. Die Stadt war mal lebenswert, aber im Moment fühle ich mich überhaupt nicht mehr wohl. Ich fühle mich von der Politik verraten und gegängelt, da von mir als Rentner erwartet wird, nun aufs Fahrrad umzusteigen. Die Verkehrspolitik ist eine Katastrophe, denn der Nahverkehr läuft ja auch nicht. Die Tickets sind obendrein viel zu teuer. Man kann nicht einfach hergehen und den Autofahrer verdammen. Man muss mit allen reden und eine faire Lösung mit adäquaten Alternativen finden. Ich sehe auch, dass unsere Gesellschaft immer verrohter wird, niemand nimmt Rücksicht auf den anderen. Früher ist man mit jemandem auf ein Bier gegangen, auch wenn man nicht die gleiche Meinung hatte. Heute ist das schon undenkbar, ein einziges gegeneinander. Ich hoffe, das wird sich wieder ändern! Aber nein, ich werde auf jeden Fall nicht verbiestert! Das Leben ist schön!“Florian Reischauer
Mohammed, Wedding, 2023: „Ich hab immer gearbeitet, nie Scheiße gebaut – aber ich bekomme keinen Pass.“
„Ich bin in Brandenburg aufgewachsen und mit acht Jahren ging’s nach Berlin, genauer gesagt in den Wedding. Hier ist wirklich alles besser. Es gibt viel Arbeit, viele Läden, in denen man essen kann, und mein Bruder war auch schon hier. Berlin ist eine internationale Stadt. Für mich als Ausländer, Palästinenser, ist das der beste Ort. Man hat wenig mit Rassismus zu kämpfen, aber andererseits sind die Papiere das größte Problem. Ich hab keine! Ich bin hier zur Schule gegangen, hab immer gearbeitet, nie Scheiße gebaut – aber ich bekomme keinen Pass.“Florian Reischauer
Gisela, Lichtenberg, 2023: „In den Westteil fahr’ ich eigentlich nie rüber, dort zieht es mich nicht hin.“

„Ich bin Anfang der 50er-Jahre nach Berlin gezogen wegen der Liebe. Ich höre meine Mutter noch sagen, ‚Gisi, was willst du denn in Berlin, bleib doch hier in Stralsund!‘ Die war todunglücklich, dass ich gegangen bin, aber ich hab’s nie bereut. Ich hab im Ministerium für Außenhandel gearbeitet. Da bin ich viel gereist, nach Mexiko, Algerien. Unsere drei Mädels waren zu Hause beim Papa und ich war 14 Tage ohne Probleme unterwegs. Das war eine tolle Zeit. Jetzt bin ich froh, dass ich noch halbwegs mobil bin. Ich fahr’ manchmal mit der Straßenbahn zum Bürgerpark in Pankow. Da war ich früher oft mit den Kindern. Oder ich geh’ hier am Donnerstag auch noch zum Sport, zusammen mit einer netten Gruppe Leute. Aufstehen, anziehen, loslaufen, das geht noch alles. Manch einer kann das gar nicht mehr, die liegen nur noch rum. Mein Mann ist vor sechs Jahren verstorben, jetzt lebe ich halt alleine, aber meine Töchter kommen mich hin und wieder besuchen. Mir geht’s gut, ich mag Berlin, Berlin ist Großstadt, das ist schön! In den Westteil fahr’ ich eigentlich nie rüber, dort zieht es mich nicht hin, dort ist mir irgendwie doch alles fremd.“Florian Reischauer
Der Fotograf und Autor des Fotografie-Buchbandes „Pieces of Berlin“, Florian Reischauer, lebt seit 17 Jahren in Berlin. Seine dreijährige Tochter ist gebürtige Berlinerin.Emmanuele Contini
Einige Bilder aus dem Projekt „Pieces of Berlin“ werden ab dem 23. November im Projektraum der Stiftung Reinbeckhallen gezeigt, die Buchvorstellung und Ausstellungseröffnung findet am 23. November von 18 bis 22 Uhr statt. Die Ausstellung läuft bis zum 14.12.2023 und kann von Do–Fr 15–19 Uhr bzw. nach Vereinbarung besucht werden.