Wie oft gehen wir die Straßen in Berlin entlang und sehen die, die uns entgegenkommen, nicht. Wie oft senken wir den Blick in der Bahn, starren auf Displays, meiden den Augenkontakt zu Fremden. Manchmal genügt nur ein genervter Blick und schon machen wir im Kopf eine Schublade auf und fragen … nichts. Dabei hat jeder von uns eine Geschichte zu erzählen, hat seine Narben, Niederlagen und auch Erfolge immer im Gepäck.
Berliner und ihre Geschichten sichtbar machen, das hat sich der Fotograf Angelo Crull in Marzahn zur Aufgabe gemacht. Mit seinen Schwarz-Weiß-Aufnahmen legt er den Finger in die Großstadt-Wunde der Anonymität.
Da ist zum Beispiel Karin. Der Schmerz, den sie auf den Porträts des Marzahners ausstrahlt, ist quälend. Die Offenheit, mit der sie ihn zeigt, nötigt Bewunderung ab.
Geschlagen und getreten von der eigenen Tochter
Karin erzählt in Crulls neuem Projekt mit dem Titel „Mensch ist Mensch, deine Geschichte in Bildern“ offen, wie sie unter ihrem extremen Übergewicht litt. „Deutsche Panzer rollen wieder“ – Sprüche wie dieser gehen unter jede noch so dicke Haut. Doch warum Katrin sich über Jahre eine Schutzschicht zulegt, fragte kaum einer.
Die heute 52-Jährige lebte jahrelang mit einer psychisch kranken und gewalttätigen Tochter zusammen, erduldete deren körperliche Gewalt gegen sich. Ein zweites Kind litt ebenfalls an einer Beeinträchtigung, von Schule und Jugendamt fühlte sich die Familie alleingelassen.
Und doch ist Wandel möglich, weiß Karin heute. „Die Fotos und das sich Öffnen waren wie eine Therapie“, sagt Katrin. Von der grauen Maus zum Schmetterling – so beschreibt sie ihren Wandel. Heute hat Karin ihr Normalgewicht erreicht, lebt ihr Leben, nicht das der anderen.
Narben im Verborgenen
Auch der Fotograf selber, Angelo Crull, hat Narben, die allerdings nicht offen sichtbar sind. Bei seiner Geburt hatte sich die Nabelschnur um seinen Hals gewickelt, sodass sein Gehirn zu wenig Sauerstoff bekam. Die Folge: eine geistige Beeinträchtigung, die zur Folge hat, dass das Lernen ihm schwerfällt.

Für viele Dinge benötigt er mehr Zeit als andere. Seelische Tiefs und Selbstzweifel erwachsen aus dem Gefühl, nicht zu genügen. Weder den eigenen Ansprüchen noch denen anderer. Sein Ausdruck und sein Anker sind die Fotografie, die er sich selber erschloss. Heute arbeitet Crull als freier Fotograf, besonders gern für Familien und Kinder. Mit dem Wissen um die eigene Verletzlichkeit kann er sich anderen auf Augenhöhe zuwenden.

Bei Crull, der bald 29 Jahre alt wird, geht alles direkt ins Herz. „Ich bin ein sehr emotionaler Typ“, sagt er, als wir uns treffen, um über sein Projekt zu sprechen. Dass Crull eine Antenne für Emotionen hat, sieht man in seinen Bildern. In ihrer Direktheit zielen sie ohne Umwege auf das, was uns alle eint: ein Mensch mit Schwächen zu sein. „Mir ist nicht wichtig, was ein Mensch ist, sondern dass er Mensch ist“, sagt Angelo Crull.
Egal, welche Hautfarbe er hat, woran er glaubt oder nicht glaubt. Crull will, dass seine Protagonisten den Blick hinter die Fassade zulassen. Denn sich verletzlich zu zeigen, bedeutet auch, Vertrauen zuzulassen. Eine Übung, die heilsam sein kann.

Wer bei Angelo Crulls Projekt dabei sein, sich und anderen etwas Gutes tun will, kann sich unter der E-Mail-Adresse Kontakt-angelo-crull@outlook.de direkt bei ihm melden.
Für eine Spende von 100 Euro an die Aktion Mensch macht Angelo Crull dann in Marzahn eindrucksvolle Porträts, die die Teilnehmer erhalten. Gleichzeitig schreiben sie ihre Geschichte auf, die er dann zusammen mit den Fotografien auf Facebook, Instagram und später auch in einem Buch verwendet.
Wenn es genügend mutige Menschen gibt, ist auch eine Ausstellung denkbar. Schon im letzten Jahr hat Angelo Crull 103 Schwarz-Weiß-Aufnahmen von ganz normalen Menschen im Marzahner Tal-Center gezeigt. Die meisten Besucher wollten damals wissen, wer sich hinter den anonymen Porträts verbirgt, und fragten nach deren Geschichten. Es gibt sie also, die Zuhörer und Genau-Hinseher. Die, die den Menschen sehen wollen, echt und ohne Filter. Denn Charakter, Emotion und Tiefgang auf der Reise zu sich selbst lassen sich nicht photoshoppen. ■