Sich in der eigenen Stadt nicht mehr sicher fühlen - Juden und Jüdinnen in Berlin ergeht es in diesen Tagen so. Einige tragen ein Käppi über der Kippa, andere bleiben gleich ganz zu Hause, schicken ihre Kinder nicht in Kitas und Schulen. Dass an der gefühlten Bedrohungslage auch konkrete Gefahren hängen, zeigen die Zahlen des Bundesverbands der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Rias). Hier registriert man eine drastische Zunahme antisemitischer Vorfälle seit dem Terrorangriff der Hamas in Israel.
Zwischen dem 7. und dem 15. Oktober seien bundesweit 202 Vorfälle dokumentiert worden, teilte das Netzwerk am Mittwoch in Berlin mit. Dies sei ein Zuwachs von 240 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum.
Auf Berliner Straßen: Auslöschung Israels gefordert
Bei rund 90 Prozent der Fälle handle es sich um israelbezogenen Antisemitismus. Dabei sei Israel die Schuld an Massakern gegeben, antisemitischer Terror legitimiert und der Staat dämonisiert und delegitimiert worden. Dies sei bundesweit bei israelfeindlichen Versammlungen beobachtet worden. Am vergangenen Sonntag seien etwa bei einer Kundgebung am Potsdamer Platz in Berlin Parolen gerufen worden, die die Auslöschung Israels forderten und den Terrorangriff der Hamas verherrlichten. Am Mittwoch gab es einen versuchten Brandanschlag auf eine Synagoge in Berlin Mitte.
Es ist das eine, dass Kundgebungen von Juden oder ihre Schweigeminuten gestört wurden, dass Israel-Flaggen zerstört werden. Doch es ist etwas anderes, wenn an der eigenen Haustür ein Davidstern aufgemalt wird. Die ganz persönliche Bedrohung im Wohnumfeld schürt Ängste.

„So besorgt, so unsicher haben wir uns noch nie gefühlt. Wir wissen nicht, was morgen passiert. Wir hoffen und beten jeden Tag dreimal, dass die Situation bald vorbei ist und alles wieder friedlich wird“, sagt ein Rabbiner der Morgenpost.
Die Jüdische Gemeinde Berlin hofft nach dem versuchten Anschlag nun auf die Solidarität der Berlinerinnen und Berliner. „85 Jahre nach der Reichspogromnacht sollen in Deutschlands Hauptstadt Synagogen wieder brennen“, warnte der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Gideon Joffe. „Die antijüdische Gewalt auf den Straßen Berlins hat damit eine neue Dimension erreicht.“
Zivilgesellschaft soll sich mit Juden solidarisieren
Die Sicherheitsmaßnahmen an jüdischen Institutionen seien zu Recht erhöht worden und hätten wohl Schlimmeres verhindert. „Aber Juden und Jüdinnen in unserer Stadt fühlen sich trotz allem nicht mehr sicher“, erklärte Joffe. Der Anstieg islamistischer Gewalt sei erschreckend. „Hier liegt es nun auch an der Zivilgesellschaft, sich mit der jüdischen Gemeinschaft zu solidarisieren.“
„Dieser Brandanschlag ist die konsequente Fortsetzung der Verherrlichung des Hamas-Terrors auf deutschen Straßen. Der „Tag des Zorns“ ist nicht nur eine Phrase. Es ist psychischer Terror, der in konkrete Anschläge mündet“, erklärte der Zentralrat der Juden.
Die Politik stellt sich hinter das selbstverständliche Recht auf jüdisches Leben in Berlin und ganz Deutschland: „Es ist ganz klar, dass wir nicht hinnehmen werden und niemals hinnehmen werden, wenn gegen jüdische Einrichtungen Anschläge verübt werden“, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Mittwoch in Kairo.
Berliner seid wachsam!
Diese Tat „trifft uns ins Herz“, schrieb Berlins Vize-Regierungschefin Franziska Giffey am Mittwoch bei der Plattform X, vormals Twitter. Die SPD-Landesvorsitzende rief zugleich die Bewohner der Hauptstadt zu Wachsamkeit auf. Berlin werde entschlossen und mit allen Mitteln der Sicherheitsbehörden jüdisches Leben schützen. „Das ist auch eine Aufgabe aller Berlinerinnen und Berliner“, so Giffey.
An der Synagoge in der Brunnenstraße äußern sich Betroffene entsetzt: Bis vorletzte Woche hätten sich Jüdinnen und Juden in dem Viertel sicher gefühlt, sagte die Vorsitzende in der Gemeinde der Berliner Zeitung. Man sei „erkennbar jüdisch“ herumgelaufen. Das habe sich geändert. Sie sei über den versuchten Brandanschlag nicht überrascht, weil sie das Gefühl habe, dass die Lage stark eskaliere. Sie rechnet damit, dass es nicht nur Drohungen geben werde, sondern weitere Angriffe.